24.11.2024
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Oberlandesgericht Karlsruhe Urteil29.11.2012

Straftäter erhalten Entschädigung für überlange Siche­rungs­ver­wahrungEuropäische Menschen­rechts­kon­vention gewährt Betroffenen bei widerrechtlich beschränkter Freiheit unmittelbaren Schaden­s­er­satz­an­spruch

Das Landgericht Karlsruhe hat vier Straftätern, die in den 70er und 80er Jahren wegen versuchten Mordes, Vergewaltigung und anderer Straftaten zu langen Freiheits­s­trafen verurteilt worden waren und gegen die anschließende Siche­rungs­ver­wahrung angeordnet worden war, gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK Entschä­di­gungs­ansprüche gegen das Land Baden-Württemberg wegen überlanger Siche­rungs­ver­wahrung in Höhe von 49.000 bis 73.000 Euro zugesprochen.

In den zugrunde liegenden Strafurteilen war in allen Fällen gleichzeitig anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet worden, die nach der damals geltenden Fassung von § 67 d Abs. 1 StGB 10 Jahre nicht überschreiten durfte, nach Ablauf der Höchstfrist waren die Untergebrachten zu entlassen.

OLG stellt Erledigung der Siche­rungs­ver­wahrung fest und ordnet Führungs­aufsicht und Bewährungshilfe an

Als diese Höchstfrist durch eine Geset­ze­s­än­derung ab dem 31. Januar 1998 entfiel, verblieben die Verurteilten über die 10 Jahre hinaus weiter in Sicherungshaft. Unter Berück­sich­tigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009, wonach die Geset­ze­s­än­derung von 1998 gegen das Rückwir­kungs­verbot verstößt, stellte das Oberlan­des­gericht Karlsruhe die Erledigung der Siche­rungs­ver­wahrung fest und ordnete stattdessen Führungs­aufsicht und Bewährungshilfe an.

Straftäter fordern Schmerzensgeld vom Land Baden-Württemberg

Die Verurteilten wurden alle aus der Siche­rungs­ver­wahrung entlassen. Für den 10 Jahre überschrei­tenden Zeitraum der Siche­rungs­ver­wahrung fordern sie Schmerzensgeld vom Land Baden-Württemberg. Gegen die einen Teil der begehrten Summen zusprechenden Urteile des Landgerichts Karlsruhe hat das Land Baden-Württemberg Berufung eingelegt.

Entschä­di­gungs­an­spruch kann unmittelbar vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden

Das Oberlan­des­gericht Karlsruhe wies die Berufungen des beklagten Landes zurück. Die Entscheidung des Landgerichts sei in der Begründung wie im Ergebnis zutreffend. Das Gericht stellte fest, dass sich die Schaden­s­er­satz­ansprüche der Kläger unmittelbar aus Art. 5 Abs. 5 EMRK ergäben. Die Europäische Menschen­rechts­kon­vention gelte innerstaatlich mit Gesetzeskraft und gewähre in Art. 5 Abs. 5 EMRK dem Betroffenen einen unmittelbaren Schaden­s­er­satz­an­spruch, wenn seine Freiheit Art. 5 Abs. 1 EMRK zuwider beschränkt worden sei. Dieser Entschä­di­gungs­an­spruch könne in den Vertragsstaaten, die die Konvention und ihre Zusatz­pro­tokolle in inner­staat­liches Recht übernommen hätten, unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Zutreffend habe das Landgericht das beklagte Land Baden-Württemberg als Anspruchs­ver­pflichteten betrachtet, zwar hätten bundes­rechtliche Vorschriften den Freiheitsentzug nach Ablauf der früheren Höchstfrist ermöglicht, der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht habe sich jedoch erst aus der Anordnung der Verlängerung sowie dem Vollzug der Siche­rungs­ver­wahrung ergeben, die durch die Vollstre­ckungs­be­hörden des Landes erfolgt seien.

Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung stellt rechtswidrige Freiheits­ent­ziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK dar

Die Anordnung der Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung auf der Grundlage von § 67 d Abs. 3 StGB (in der Fassung von 1998) und deren Vollzug nach Ablauf der in den Urteilen verhängten erstmaligen 10-jährigen Siche­rungs­ver­wahrung stelle eine rechtswidrige Freiheits­ent­ziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK dar. Ein Verschulden der inner­staat­lichen Organe setze diese als Gefähr­dungs­haftung ausgestaltete Schaden­s­er­satz­pflicht nicht voraus. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes gebe es keine Einschränkung der Schaden­s­er­satz­pflicht in zeitlicher Hinsicht, die Rechts­wid­rigkeit des Eingriffs bedürfe keiner darauf bezogenen konstitutiven Feststellung. Die Beschränkung der Schaden­s­er­satz­pflicht auf Freiheits­ent­ziehung erst nach Feststellung ihrer Konven­ti­o­ns­wid­rigkeit würde Art. 5 Abs. 5 EMRK seines wesentlichen Anwen­dungs­be­reichs berauben, da die gerichtliche Feststellung der Konven­ti­o­ns­wid­rigkeit dem Eingriff in der Regel nachzufolgen pflege, oftmals auch zu einem Zeitpunkt erfolge, zu dem die Freiheits­ent­ziehung bereits beendet sei.

Entschä­di­gungs­an­spruch setzt kein Verschulden voraus

Der Entschä­di­gungs­an­spruch setze kein Verschulden voraus. Deshalb komme es nicht darauf an, dass die Anordnung der Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung der damaligen Rechtslage entsprochen habe, von der höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung zunächst nicht beanstandet worden sei und die Vollstre­ckungs­be­hörden der Beklagten verpflichtet gewesen seien, die verlängerte Siche­rungs­ver­wahrung zu vollstrecken. Das Vertrauen des beklagten Landes auf die Rechtmäßigkeit der von ihm angewandten Vorschriften sei gegenüber dem Interesse des Einzelnen, dass in sein Freiheitsrecht von Konven­ti­o­ns­organen oder inner­staat­lichen Organen nicht sanktionslos rechtswidrig eingegriffen werden dürfe, unbeachtlich. Die vom Landgericht zugebilligten immateriellen Schaden­s­er­satz­ansprüche seien nicht zu beanstanden. Das Landgericht habe eine immaterielle Entschädigung in Höhe von 500 Euro pro Monat als angemessen betrachtet. Dies sei unter Heranziehung der Bemes­sung­s­praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in vergleichbaren Fällen nicht zu beanstanden.

Art. 5 EMRK:

Recht auf Freiheit und Sicherheit

Erläuterungen

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

[...]

(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheits­ent­ziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

Quelle: Oberlandesgericht Karlsruhe/ra-online

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