18.10.2024
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Dokument-Nr. 5568

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Beschluss17.01.2008BundesgerichtshofGSSt 1/07
Vorinstanz:
  • Landgericht Oldenburg, Urteil09.08.2006, 1 KLs 115/04
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Bundesgerichtshof Beschluss17.01.2008

Großer Senat für Strafsachen beschließt Systemwechsel bei der Entschädigung für rechts­s­taats­widrig verzögerte StrafverfahrenZukünftig gilt das Vollstre­ckungs­modell - Strafab­schlags­modell wird nicht mehr angewandt

Der Große Senat für Strafsachen des Bundes­ge­richtshofs hatte aufgrund einer Vorlage des 3. Strafsenats über die Frage zu entscheiden, in welcher Form ein Angeklagter dafür zu entschädigen ist, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren von den Straf­ver­fol­gungs­be­hörden in rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbarer Weise verzögert worden ist. Zukünftig soll das Vollstre­ckungs­modell das Strafab­schlags­modell ablösen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs waren die Belastungen, denen ein Angeklagter durch eine rechts­s­taats­widrige Verzögerung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens ausgesetzt ist, durch eine bezifferte Herabsetzung der ohne diese Verzögerung angemessenen Strafe auszugleichen (Strafab­schlags­modell).

Urteil des LG Oldenburg gibt Anlass das Strafab­schlags­modell zu hinterfragen

Anlass für die Vorlage des 3. Strafsenats war vor diesem Hintergrund die Revision der Staats­an­walt­schaft gegen ein Urteil des Landgerichts Oldenburg, in dem der Angeklagte wegen besonders schwerer Brandstiftung und versuchten Betruges zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von vier Jahren verurteilt worden war, obwohl das Strafgesetzbuch (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) schon allein für das Brand­stif­tungs­delikt Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren vorsieht. Das Landgericht hat diese Mindeststrafe unterschritten, um dem Angeklagten einen Ausgleich dafür zu gewähren, dass zwischen dem Eingang der Anklage am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröff­nungs­be­schlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe, in dem das Verfahren nicht betrieben worden sei. Es ist dabei davon ausgegangen, dass der Angeklagte auch ohne Berück­sich­tigung dieser Verfahrensverzögerung für das Brand­stif­tungs­delikt nur die Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe verwirkt gehabt hätte. Um der Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshof zum Ausgleich rechts­s­taats­widriger Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen gerecht zu werden, hat das Landgericht keine andere Möglichkeit gesehen, als den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB (Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahre) analog § 49 Abs. 1 StGB zu mildern und innerhalb des so eröffneten Strafrahmens (zwei Jahre bis elf Jahre drei Monate Freiheitsstrafe) eine Einzelstrafe von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt. Für den versuchten Betrug hat es nicht auf die an sich für verwirkt erachteten Einzel­frei­heits­strafe von einem Jahr, sondern auf eine solche von sechs Monaten erkannt und sodann aus diesen beiden Einzelstrafen eine Gesamt­frei­heits­strafe von vier Jahren gebildet; ohne die Verfah­rens­ver­zö­gerung hätte es eine solche von fünf Jahren und zehn Monaten ausgesprochen.

Staats­an­walt­schaft beanstandet Strafabschlag - Gesetzlich vorgegebener Strafrahmen wurde nicht beachtet

Diese Vorgehensweise hat die Staats­an­walt­schaft nach Auffassung des 3. Strafsenats mit Recht beanstandet. Die gesetzlich vorgegebenen Strafrahmen seien von den Gerichten zu respektieren; sie dürften auch nicht unterschritten werden, um dem Angeklagten einen Ausgleich für die Verzögerung des Verfahrens zu verschaffen. Um ihm dennoch in allen Fällen die nach den Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention gebotene Kompensation gewähren zu können, sei der Ausgleich nicht durch einen Abschlag auf die an sich schuld­an­ge­messene Strafe vorzunehmen. Vielmehr sei diese Strafe im Urteil festzusetzen und gleichzeitig auszusprechen, dass ein angemessener Teil hiervon zum Ausgleich für die Verfah­rens­ver­zö­gerung als bereits vollstreckt gelte (Vollstre­ckungs­modell). Weil sich diese Lösung allgemein besser in das Rechts­fol­gen­system des Straf­ge­setzbuchs einpasse als der bisher praktizierte Strafabschlag, will es der 3. Strafsenat für alle Fälle rechts­s­taats­widriger Verfah­rens­ver­zö­ge­rungen angewendet wissen. Da hiermit eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er die Sache dem Großen Senat für Strafsachen wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts vorgelegt.

Großer Senat entscheidet sich für Vollstre­ckungs­modell - Altes Modell steht im Widerstreit zur Bindung der Gerichte an das Gesetz

Dieser hat sich für das Vollstreckungsmodell entschieden. Er hat den Systemwechsel für geboten erachtet, weil - wie der Ausgangsfall zeigt - die notwendige Kompensation im Wege des Strafabschlags in besonderen Konstellationen innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen nicht möglich ist und damit in Widerstreit zu der Bindung der Gerichte an das Gesetz tritt. Dieser Konflikt darf aus übergeordneten rechtlichen Gesichtpunkten nur dann durch Unterschreiten der gesetzlich vorgesehenen Mindeststrafe gelöst werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation vorhanden ist, die die Grundsätze des Straf­zu­mes­sungs­rechts des StGB unberührt lässt; diese Möglichkeit ist in Form des Vollstre­ckungs­modells jedoch gegeben.

Straf­voll­stre­ckungs­modell entspricht in vollem Umfang den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Dieses ist auch deswegen dem Modell des Strafabschlags vorzuziehen, weil es in vollem Umfang den Kriterien gerecht wird, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Gewährung einer Kompensation für die rechts­s­taats­widrige Verfah­rens­zö­gerung zu beachten sind. Außerdem hat die Vollstre­ckungs­lösung den Vorzug, dass sie bei der Strafzumessung nicht Fragen des Ausgleichs von Unrecht und Schuld mit der Strafzumessung wesensfremden Aspekten der Entschädigung für dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Beschleu­ni­gungsgebot vermengt; hierdurch belässt sie der unrechts- und schuld­an­ge­messenen Strafe die Funktion, die ihr in straf- und außer­straf­recht­lichen Folgeregelungen beigelegt wird. Sie, und nicht eine aus Entschä­di­gungs­gründen reduzierte Strafe bleibt etwa maßgeblich dafür, ob Strafaussetzung zur Bewährung möglich ist, die Strafe Grundlage für die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung sein kann oder nach auslän­der­recht­lichen Bestimmungen die Ausweisung des Angeklagten rechtfertigt. Diese Folgen sind gesetzlich vorgesehen und daher als Konsequenz des Systemwechsels sachgerecht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 25/08 des BGH vom 08.02.2008

der Leitsatz

MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1

Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechts­s­taats­widrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

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