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Oberlandesgericht Hamm Urteil03.05.2018

OLG Hamm zur Vorfahrts­re­gelung bei der Autobahn­auffahrt beim "Stop-and-Go-Verkehr"Vorfahrts­re­gelung findet erst bei längerem Stehen des Verkehrs auf der durchgehenden Fahrbahn keine Anwendung mehr

Die Vorfahrtsregel des § 18 Abs. 3 StVO (Straßen­verkehrs­ordnung), nach der der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt vor Fahrzeugen hat, die auf die Fahrbahn auffahren wollen, gilt auch bei sogenanntem "Stop-and-Go-Verkehr". Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in der Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, findet diese Vorfahrts­re­gelung keine Anwendung mehr. Fahrzeugführer, die in dieser Situation auf die Fahrbahn einer Autobahn aufgefahren, haben aber das Rücksicht­nah­megebot des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten. Dies geht aus einer Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts Hamm.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der seinerzeit 45 Jahre alte Betroffene aus Ludwigshafen wollte im Mai 2017 mit einem Pkw BMW vom Rasthof Siegerland auf die Autobahn A 45 in Fahrtrichtung Frankfurt am Main auffahren. Auf der Autobahn staute sich der Verkehr. Vor dem Betroffenen fuhr ein weiterer Pkw, dem es gelang, in eine Lücke zwischen zwei Sattelzügen auf die rechte durchgehende Fahrbahn aufzufahren. Der Pkw musste dann wegen des vor ihm stehenden Sattelzuges anhalten. Der Betroffene konnte nicht vollständig auf die Fahrbahnspur wechseln und blieb schräg zwischen dem Beschleu­ni­gungs­streifen und der rechten Fahrbahn stehen. Beim Anfahren übersah ihn der nachfolgende Sattelzug. Es kam zum Zusammenstoß beider Fahrzeuge, ohne dass Personenschaden entstand.

AG verurteilt Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbeachtung der Vorfahrt zu Geldbuße

In dem gegen den Betroffenen geführten Bußgeld­ver­fahren hat das Amtsgericht Siegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbeachtung der Vorfahrt auf der durchgehenden Fahrbahn - Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO - zu einer Geldbuße von 110 Euro verurteilt. Der Betroffene sei, so das Amtsgericht, wartepflichtig gewesen. Er habe seinen "Überholvorgang" zu einem Zeitpunkt begonnen, zu dem er nicht mit Sicherheit habe sagen können, dass er ihn vollständig beenden können würde. Damit habe er das "Überholen" des vorfahrts­be­rech­tigten Sattelzuges erzwingen wollen, eine vorherige Verständigung mit dem Fahrer dieses Sattelzuges habe nicht stattgefunden.

OLG weist Sache zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zurück an Amtsgericht

Die Rechts­be­schwerde des Betroffenen gegen das erstin­sta­nzliche Urteil war vorläufig erfolgreich. Nach der Zulassung der Rechts­be­schwerde zur Fortbildung des Rechts hat das Oberlan­des­gericht Hamm die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Die bisherigen Feststellungen ergäben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO, so das Gericht. Das Amtsgericht gehe zwar zutreffend davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten habe, und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr oder staubedingt "Stop-and-Go-Verkehr" herrsche. Wie schon die gesetzliche Formulierung "Vorfahrt" zeige, müsse allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn herrschen, da ansonsten nicht von einer "Fahrt" gesprochen werden könne. Stehe der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn, gebe es keine "Vorfahrt", die Vorrang haben könne.

Nicht jedes verkehrs­be­dingte Halten auf durchgehender Fahrbahn setzt Straßen­ver­kehrs­ordnung außer Kraft

Das bedeute allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrs­be­dingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn - und sei er zeitlich auch noch so kurz - bereits die Vorfahrts­re­gelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könne. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen sei, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen sei, sei das der Fall.

Keine Missachtung der Vorfahrt des Sattelzuges bei Standzeiten von drei bis vier Minuten

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts habe der Sattelzug hinter dem Betroffenen gestanden, ohne dass das Amtsgericht konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit getroffen habe. Aus der Beweiswürdigung ergebe sich allerdings, dass der als Zeuge vernommene Fahrer des Sattelzuges bekundet habe, dass er etwa 3-4 Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine so lange Standzeit geherrscht haben, so habe der Betroffene die Vorfahrt des Sattelzuges nicht missachten können. Dabei mache es für die Regelung des § 18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt gewesen sei.

AG muss weitere Feststellungen zu Wartezeiten und Fahrverhalten treffen

Das Amtsgericht habe daher in der neuen Verhandlung aufzuklären, inwieweit sich der Lkw in einer Fahrbewegung befunden habe, als der Betroffene mit seinem Fahrzeug von der Beschleu­ni­gungsspur auf die rechte Fahrbahn gewechselt sei. Dabei sei gegebenenfalls auch aufzuklären, ob der Betroffene gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, weil er so dicht vor dem (stehenden) Sattelzug auf den rechten Fahrstreifen aufgefahren sei, dass dessen Fahrer ihn wegen des sogenannten "toten Winkels" eines LKW-Fahrers nicht unmittelbar habe wahrnehmen können.

§ 18 Straßen­ver­kehrs­ordnung (Autobahnen und Kraft­fahr­straßen) lautet wie folgt:

(1) 1 Autobahnen (Zeichen 330.1) und Kraft­fahr­straßen (Zeichen 331.1) dürfen nur mit Kraftfahrzeugen benutzt werden, deren durch die Bauart bestimmte Höchst­ge­schwin­digkeit mehr als 60 km/h beträgt; werden Anhänger mitgeführt, gilt das Gleiche auch für diese. 2 Fahrzeug und Ladung dürfen zusammen nicht höher als 4 m und nicht breiter als 2,55 m sein. 3 Kühlfahrzeuge dürfen nicht breiter als 2,60 m sein.

(2) Auf Autobahnen darf nur an gekenn­zeichneten Anschluss­stellen (Zeichen 330.1) eingefahren werden, auf Kraft­fahr­straßen nur an Kreuzungen oder Einmündungen.

(3) Der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hat die Vorfahrt.

§ 1 Straßen­ver­kehrs­ordnung (Grundregeln) lautet wie folgt:

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Quelle: Oberlandesgericht Hamm/ra-online

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