15.11.2024
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Oberlandesgericht Hamm Urteil19.04.2016

Patient hat nach fehlender Aufklärung über Anästhesie-Alternative beim Zahnarzt Anspruch auf SchmerzensgeldBehandlung mangels wirksamer Einwilligung insgesamt rechtswidrig gewesen

Ein Zahnarzt kann für eine Behandlung mittels Infiltrations- oder Leitungs­an­äs­thesie haften, wenn er den Patienten über die als echte Alternative mögliche Behandlung mittels intra­li­ga­mentärer Anästhesie nicht aufgeklärt hat und die vom Patienten für den zahnärztlichen Eingriff erteilte Einwilligung deswegen unwirksam gewesen ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts Hamm hervor.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 1982 geborene Kläger aus Bielefeld suchte im Juli 2013 die Zahnarztpraxis des beklagten Zahnarztes in Bielefeld auf. Er litt unter Zahnschmerzen im Unterkiefer und gab an, Angstpatient zu sein. Der Beklagte erneuerte die Verplombung zweier Zähne im Unterkiefer und betäubte den zu behandelnden Bereich des Unterkiefers zuvor mittels Leitungs­an­äs­thesie, indem er dem Kläger eine Betäu­bungs­spritze setze. Eine Behandlung mittels intra­li­ga­mentärer Anästhesie, bei der eine Minikanüle in die Bänder des Zahnhal­te­ap­parates eingeführt wird, zog der Beklagte nicht weiter in Betracht und klärte den Kläger insoweit nicht auf. Am Tage nach der Behandlung teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass seine Zunge kribbeln würde und taub sei. In der Folgezeit hat der Kläger geltend gemacht, der Beklagte habe beim Spritzen behand­lungs­feh­lerhaft den Zungennerv geschädigt. Mit Ausnahme ihrer Spitze sei seine Zunge dauerhaft gefühllos geworden. Außerdem sei er vor der Behandlung nicht über eine mögliche Nervschädigung aufgeklärt worden. Vom Beklagten hat der Kläger deswegen Schadensersatz verlangt, u.a. 7.500 Euro Schmerzensgeld.

Hinweise auf behand­lungs­feh­lerhafte Ausführung der Leitungs­an­äs­thesie nicht ersichtlich

Die Klage war teilweise erfolgreich. Das Oberlan­des­gericht Hamm sprach dem Kläger Schadensersatz zu, u.a. ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro. Der Kläger sei zwar laut eines vom Gericht zu Rate gezogenen zahnme­di­zi­nischen Sachver­ständigen nicht fehlerhaft behandelt worden. Die Leitungs­an­äs­thesie sei indiziert gewesen. Dass sie behand­lungs­feh­lerhaft ausgeführt worden sei, sei nicht ersichtlich. Auch bei fachgerechter Leitungs­an­äs­thesie könne eine Nervverletzung als Komplikation auftreten.

Patient wurde nicht ordnungsgemäß aufgeklärt

Allerdings hafte der Beklagte, weil seine Behandlung mangels wirksamer Einwilligung des Klägers insgesamt rechtswidrig gewesen sei. Der Beklagte habe es versäumt, den Kläger über die - neben der Leitungs­an­äs­thesie bestehende - Möglichkeit einer intra­li­ga­mentäre Anästhesie aufzuklären. Über mehrere gleichermaßen indizierte, übliche Behand­lungs­me­thoden habe ein Arzt aufzuklären, wenn die Methoden unter­schiedliche Risiken und Erfolgschancen aufwiesen. In diesem Fall habe der Patient eine echte Wahlmöglichkeit, so dass ihm die Entscheidung überlassen bleiben müsse, auf welchem Wege die Behandlung erfolgen solle und auf welches Risiko er sich einlassen wolle.

Intra­li­ga­mentäre Anästhesie wäre echte Behand­lung­s­al­ter­native gewesen

Im vorliegenden Fall der Behandlung eines Angstpatienten sei die intra­li­ga­mentäre Anästhesie eine echte Behand­lung­s­al­ter­native zur Leitungs­an­äs­thesie gewesen. Beide Behand­lungs­me­thoden wiesen unter­schiedliche Risiken und Erfolgschancen auf. Die Leitungs­an­äs­thesie habe den Vorteil, dass sie vergleichsweise schnell durchgeführt werden könne. Als Nachteil sei bei ihr insbesondere die Gefahr - wenn auch sehr seltener - Nervver­let­zungen zu berücksichtigen. Der Vorteil der intra­li­ga­mentären Anästhesie liege insbesondere darin, dass eine Nervverletzung nicht möglich sei. Allerdings sei bei ihr nachteilig, dass sie beim betäubten Zahn für bis zu 24 Stunden eine Aufbiss­emp­find­lichkeit hervorrufen und dass es zu Nekrosen an der Schleimhaut und dem Zahnfleisch in den Zahnzwi­schen­räumen kommen könne. Eine Situation, die eine intra­li­ga­mentäre Anästhesie aus zahnme­di­zi­nischen Gründen ausgeschlossen hätte, habe beim Kläger nicht vorgelegen.

Ligamentäre Anästhesie gehört zum Standard in ambulanter zahnme­di­zi­nischer Praxis

Die ligamentäre Anästhesie habe jedenfalls im Jahre 2013 zum Standard in der ambulanten zahnme­di­zi­nischen Praxis gehört, über die ein Patient - auch nach der Einschätzung des zahnme­di­zi­nischen Sachver­ständigen - aufzuklären sei, damit er die einzusetzende Anästhesieform auswählen könne. Dass die zahnme­di­zi­nische Praxis von der insoweit gebotenen Aufklärung aus Zeitgründen absehe, ändere die bestehende Aufklärungspflicht nicht.

OLG bejaht Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro

Schließlich sei die Behandlung des Klägers auch nicht aufgrund einer hypothetischen Einwilligung gerechtfertigt gewesen. Für den Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung habe der Kläger einen - die Annahme einer hypothetischen Einwilligung ausschließenden - Entschei­dungs­konflikt hinreichend glaubhaft gemacht. Dem Kläger stehe ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro zu, dessen Höhe das Gericht unter Berück­sich­tigung der die beim Kläger nunmehr eingetretene gesund­heit­lichen Besserung, das Taubheitsgefühl habe sich stark zurückgebildet, bemessen habe. Davon, dass die Leitungs­an­äs­thesie die Nervverletzung ausgelöst habe, sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auszugehen.

Quelle: Oberlandesgericht Hamm/ra-online

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