21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil26.06.2012

Grund­s­tücks­ei­gentümer muss Jagd auf seinem Land nicht duldenEGMR rügt Verletzung des Schutzes des Eigentums

Ein Grund­s­tücks­ei­gentümer muss die Jagd auf seinem Land nicht dulden, wenn er sie aus ethischen Gründen ablehnt. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und stellte eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 (Schutz des Eigentums) zur Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) fest. Darüber hinaus befand das Gericht, dass diese Verpflichtung Grund­s­tücks­be­sitzern in Deutschland, die die Jagd ablehnen, eine unver­hält­nis­mäßige Belastung auferlegt. Der Gerichtshof folgte damit seinen Schluss­fol­ge­rungen in zwei früheren Urteilen, die das Jagdrecht in Frankreich und Luxemburg betrafen.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Streitfalls, Günter Herrmann, ist deutscher Staats­an­ge­höriger, 1955 geboren und lebt in Stutensee (Baden-Württemberg). Als Eigentümer von zwei Grundstücken unter 75 Hektar in Rheinland-Pfalz ist er nach dem Bundes­jagd­gesetz automatisch Mitglied in der Jagdgenossenschaft Langsur und muss die Jagd auf seinem Grundstück dulden. Da er die Jagd aus Gewis­sens­gründen ablehnt, beantragte Günter Herrmann bei der zuständigen Jagdbehörde die Beendigung seiner Mitgliedschaft in der Jagdge­nos­sen­schaft. Die Behörde wies den Antrag zurück, ebenso wie das Verwal­tungs­gericht Trier. Seine Berufung zum Oberver­wal­tungs­gericht Rheinland-Pfalz und zum Bundes­ver­wal­tungs­gericht blieb erfolglos.

BVerfG: Verpflichtende Mitgliedschaft in Jagdge­nos­sen­schaft verletzt weder Eigen­tums­grundrecht noch Gewissens- oder Verei­ni­gungs­freiheit

Mit Beschluss vom 13. Dezember 2006 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, die Verfas­sungs­be­schwerde Günter Herrmanns zur Entscheidung anzunehmen. Es unterstrich insbesondere, dass das Bundes­jagd­gesetz auf die Erhaltung eines den landschaft­lichen und landes­kul­tu­rellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildtier­be­standes abziele. Die verpflichtende Mitgliedschaft in der Jagdge­nos­sen­schaft sei zur Verwirklichung dieses Zwecks angemessen und notwendig und verletze weder Günter Herrmanns Eigen­tums­grundrecht noch seine Gewissens- oder Verei­ni­gungs­freiheit. Auch sei der Gleichheitssatz nicht verletzt, da das Bundes­jagd­gesetz für alle Grund­s­tücks­ei­gentümer gelte und Eigentümer von Grundstücken mit 75 Hektar oder mehr zwar nicht automatisch Mitglieder in einer Jagdge­nos­sen­schaft, gleichwohl aber verpflichtet seien, auf ihrem Land entweder selbst zu jagen oder die Jagd zu dulden.

Beschwer­de­führer rügt Verletzung diverser Grundrechte

Günter Herrmann rügte, dass die Verpflichtung, die Jagd auf seinem Grundstück zu dulden gegen seine Rechte nach Artikel 1 Protokoll Nr. 1 zur EMRK für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 EMRK (Diskri­mi­nie­rungs­verbot) verstoße. Weiterhin machte er einen Verstoß gegen Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit) und Artikel 11 (Versammlungs- und Verei­ni­gungs­freiheit) für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 geltend.

Kammer erklärt Beschwerde 2007 für unzulässig erklärt

Die Beschwerde wurde am 12. Februar 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. In seinem Kammerurteil vom 20. Januar 2011 erklärte der Gerichtshof mit einer Mehrheit der Stimmen die Beschwerde nach Artikel 11 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 für unzulässig und stellte keinen Verstoß gegen Artikel 1 Protokoll Nr. 1, Artikel 14 oder Artikel 9 fest. Am 20. Juni 2011 wurde der Fall auf Antrag Günter Herrmanns an die Große Kammer verwiesen; eine mündliche Verhandlung fand am 30. November 2011 statt.

Die folgenden Organisationen gaben als Drittparteien schriftliche Stellungnahmen ab: Deutscher Jagdschutz Verband (DJV) Bundes­a­r­beits­ge­mein­schaft der Jagdge­nos­sen­schaften und Eigen­jagd­be­sitzer (BAGJE) European Centre for Law and Justice (ECLJ)

Der Gerichtshof unterstrich, dass sich die Große Kammer nicht mit dem bereits von der Kammer für unzulässig erklärten Teil der Beschwerde, nach Artikel 11 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14, befassen konnte. Weiterhin konnte er sich nicht mit einer Beschwerde Günter Herrmanns nach Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) befassen, die dieser im Verfahren vor der Kammer nicht vorgebracht hatte.

Deutsches Jagdrecht kann mit Allge­mein­in­teresse im Sinne von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 stehen

Zwischen den Parteien war unumstritten - und der Gerichtshof teilte diese Auffassung - dass die Verpflichtung, die Jagd auf seinem Grundstück zu dulden, einen Eingriff in Günter Herrmanns Recht auf Achtung seines Eigentums darstellt. Weiterhin berücksichtigte der Gerichtshof, dass das deutsche Jagdrecht als ein Mittel zur Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allge­mein­in­teresse im Sinne von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 gelten kann.

EGMR beruft sich auf Urteile gegen Frankreich und Luxemburg zur Vereinbarkeit der Konvention mit der Duldung der Jagd auf dem Land der Eigentümer

Der Gerichtshof bezog sich auf zwei andere Fälle, in denen er untersucht hatte, inwieweit die Verpflichtung von Grund­s­tücks­ei­gen­tümern, die Jagd auf ihrem Land zu dulden, mit der Konvention vereinbar ist. In seinem Urteil der Großen Kammer im Fall Chassagnou und andere gegen Frankreich war er zu der Auffassung gelangt, dass Eigentümern kleinerer Landstücke eine unver­hält­nis­mäßige Belastung durch die Verpflichtung auferlegt wird, Dritten Jagdrechte auf ihrem Land zu übertragen, so dass diese davon in einer Weise Gebrauch machen können, die den Überzeugungen der Eigentümer zuwiderläuft. Der Gerichtshof sah darin einen Verstoß gegen Artikel 1 Protokoll Nr. 1. In seinem Kammerurteil im Fall Schneider gegen Luxemburg hatte er diese Schluss­fol­ge­rungen bestätigt. Seit Verkündung dieser Urteile hatten mehrere europäische Staaten ihre Gesetzgebung oder Rechtsprechung dahingehend geändert, dass Grund­s­tücks­ei­gentümer die Möglichkeit haben, gegen die Jagd auf ihrem Land Einspruch zu erheben oder ihre Mitgliedschaft in einer Jagdge­nos­sen­schaft unter bestimmten Bedingungen zu beenden.

Folglich hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob sich - wie die deutsche Bundesregierung argumentiert hatte - das deutsche Jagdrecht und seine Anwendung im Fall Günter Herrmanns maßgeblich von der Sach- und Rechtslage in Frankreich und Luxemburg zur Zeit der beiden früheren Urteile unterschied.

Keine wesentlichen Unterschiede zwischen deutschem Recht und entsprechender Gesetzgebung in Frankreich und Luxemburg

Der Gerichtshof stellte fest, dass zu den Zwecken des Bundes­jagd­ge­setzes die Hege mit dem Ziel der Erhaltung eines artenreichen und gesunden Wildtier­be­standes gehört. In dieser Hinsicht unterschied sich das deutsche Recht nicht wesentlich von der entsprechenden Gesetzgebung in Frankreich und Luxemburg, die vergleichbare Ziele verfolgte, nämlich die „rationale Organisation der Jagd im Einklang mit der Achtung der Umwelt“ bzw. das „rationale Management des Wildbestandes und der Erhalt des ökologischen Gleichgewichts“.

Unterschiede im Anwen­dungs­bereich der jeweiligen Gesetzgebung in den drei Ländern haben keine entscheidende Auswirkung

Die Bundesregierung hatte hervorgehoben, dass das deutsche Jagdrecht bundesweit gilt, während die maßgebliche französische Gesetzgebung nur in einigen Départments Anwendung fand. Der Gerichtshof nahm aber zur Kenntnis, dass eine Grund­ge­set­z­än­derung von 2006 den deutschen Ländern die Möglichkeit gegeben hatte – von der sie bisher noch nicht Gebrauch gemacht haben - im Jagdwesen von der Gesetzgebung des Bundes abweichende Regelungen zu treffen. Zudem hatte die landesweite Anwendbarkeit des luxemburgischen Jagdrechts den Gerichtshof nicht davon abgehalten, im Fall Schneider einen Verstoß gegen die Konvention festzustellen. Im Übrigen sieht die Gesetzgebung in allen drei Ländern bestimmte räumliche und perso­nen­be­zogene Ausnahmen vor. So sind Natur- und Wildschutz­gebiete in Frankreich und Deutschland von Jagdbezirken ausgeschlossen. In Frankreich und Luxemburg sind staatlicher Grundbesitz bzw. Land im Eigentum des Großherzogs von Jagdbezirken ausgeschlossen, während es in Deutschland unter­schiedliche Regelungen je nach Größe des Grundeigentums gibt. Der Gerichtshof befand, dass diese Unterschiede im Anwen­dungs­bereich der jeweiligen Gesetzgebung in den drei Ländern nicht als entscheidend gelten können.

Gegen die Jagd gerichtete Überzeugungen kann nicht zweifelfrei durch Entschä­di­gungs­zahlung aufgewogen werden

Während das französische Recht Grund­ei­gen­tümern, die die Jagd ablehnten, keinerlei finanzielle Entschädigung für die Verpflichtung, diese auf ihrem Land zuzulassen, zubilligte, sah bzw. sieht das luxemburgische und deutsche Recht vor, dass Mitglieder der Jagdge­nos­sen­schaften einen Anteil des Ertrags aus der Verpachtung erhalten. In Deutschland muss der Anspruch auf eine solche Auszahlung ausdrücklich geltend gemacht werden. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass die Verpflichtung eines Jagdgegners, für die von ihm abgelehnte Tätigkeit eine Entschädigung geltend zu machen, nicht mit der Achtung für die Ablehnung der Jagd aus Gewis­sens­gründen in Einklang zu bringen war. Es war zweifelhaft, ob tiefe persönliche Überzeugungen durch eine Entschä­di­gungs­zahlung aufzuwiegen waren. Im Übrigen berücksichtigt das Bundes­jagd­gesetz nicht ausdrücklich die ethische Überzeugung von Grund­ei­gen­tümern, die die Jagd aus Gewis­sens­gründen ablehnen.

Verpflichtung zur Duldung der Jagd auf eigenem Land legt Grund­s­tücks­ei­gen­tümern unver­hält­nis­mäßige Belastung auf

Der Gerichtshof gelangte zu der Auffassung, dass sich die Situation in Deutschland nicht substantiell von derjenigen unterschied, die er in den Fällen Chassagnou und Schneider geprüft hatte. Er sah daher keinen Grund, von seinen Schluss­fol­ge­rungen in diesen Fällen abzuweichen, dass die Verpflichtung, die Jagd auf ihrem Land zu dulden, obwohl sie diese aus Gewis­sens­gründen ablehnen, Grund­s­tücks­ei­gen­tümern eine unver­hält­nis­mäßige Belastung auferlegt. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 vor.

In Anbetracht seiner Schluss­fol­ge­rungen im Hinblick auf die Beschwerde nach Artikel 1 Protokoll Nr. 1 sah der Gerichtshof keine Notwendigkeit, die Beschwerden Günter Herrmanns nach Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 Protokoll Nr. 1 oder nach Artikel 9 separat zu prüfen.

Deutschland muss Beschwer­de­führer entschädigen

Der Gerichtshof entschied, dass Deutschland Günter Herrmann 5.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 3.861,91 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Separate Meinungen

Richter Pinto de Albuquerque äußerte eine teilweise zustimmende und teilweise abweichende Meinung. Die Richter Davíd Thór Björgvinsson, Vuèiniæ und Nußberger äußerten eine gemeinsame abweichende Meinung.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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