23.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil07.07.2011

EGMR: Siebentägige Unterbringung eines Häftlings ohne Bekleidung verstößt gegen Menschen­rechts­kon­ventionVerstoß gegen Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung

Eine siebentägige Unterbringung eines Strafgefangenen ohne Bekleidung in einer Sicher­heitszelle verstößt gegen Artikel 3 – Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung – der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls, Herbert Hellig, ist deutscher Staats­an­ge­höriger, 1953 geboren, und lebt in Frankfurt am Main.

Strafgefangener verweigert Umzug von Einzelzelle in Gemein­schafts­haftraum

Während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe in der JVA Butzbach wurde Herbert Hellig im Oktober 2000 angewiesen, von einer Einzelzelle in einen Gemein­schafts­haftraum umzuziehen, in dem die Toilette durch keinerlei Wand oder Vorhang vom Rest der Zelle getrennt war. In einem Brief an den Leiter der JVA erklärte Herbert Hellig, dass er sich weigere, umzuziehen, und dass eine solche Unterbringung rechtswidrig wäre. Am 12. Oktober 2000 wiesen ihn Vollzugsbeamte an, seine Einzelzelle zu räumen, und drohten ihm Zwang an, sollte er der Anweisung nicht nachkommen. Als sich Herbert Hellig am Eingang des Gemein­schaftsraums dem Umzug erneut verweigerte, entwickelte sich ein Handgemenge zwischen ihm und den Beamten. Zwischen den Parteien ist umstritten, ob Herbert Hellig trotz seines lediglich passiven Widerstandes von den Vollzugsbeamten geschlagen und getreten wurde oder ob er selbst nach den Beamten trat.

Strafgefangener wird unbekleidet in 8m² großer Sicher­heitszelle untergebracht

Herbert Hellig wurde anschließend in einem etwa 8m² großen besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände untergebracht, der mit einer Matratze und einer Hocktoilette ausgestattet war. In der Zelle wurde er entkleidet und körperlich durchsucht. Ein Gefängnisarzt untersuchte ihn am selben Tag und an den folgenden Tagen; in seinem Bericht stellte er geringfügige Prellungen und einen Bluterguss bei Herbert Hellig fest und vermerkte, dass diese Verletzungen ohne Komplikationen verheilen würden. Ein Bericht des Gefäng­nispastors, der Herbert Hellig drei Tage nach seiner Unterbringung in der Sicher­heitszelle besuchte, merkte an, dass Herbert Hellig während des Besuchs unbekleidet war. Herbert Hellig blieb eine Woche in der Sicher­heitszelle und wurde dann mit seiner Einwilligung ins Gefäng­nis­kran­kenhaus gebracht.

Strafgefangener hält Verlegung in Sicher­heitszelle und angewandte Gewalt für rechtswidrig

Nach seiner Verlegung in das Krankenhaus beantragte Herbert Hellig beim Landgericht Gießen eine gerichtliche Feststellung, dass seine Verlegung in die Sicher­heitszelle und die von den Vollzugsbeamten gegen ihn angewandte Gewalt rechtswidrig gewesen seien.

Amtgericht Gießen: Unterbringung in Sicher­heitszelle verhältnismäßig

Das Gericht wies den Antrag im April 2004 zurück. Es befand, dass aufgrund von Herbert Helligs Verhalten in erhöhtem Maß die Gefahr von Gewalt­tä­tig­keiten und der Verletzung anderer Personen bestanden habe. Dies hätten die Berichte von Vollzugsbeamten bestätigt, wonach Herbert Hellig damit begonnen habe, sie zu stoßen und zu schlagen. Nach Auffassung des Gerichts sei seine Unterbringung in der Sicher­heitszelle verhältnismäßig gewesen, da eine besondere Gefahr bestanden habe, dass er sich seiner Verlegung in eine andere Zelle mit Gewalt widersetzen würde. Einem Bericht des Gefäng­nis­psy­chologen zufolge habe er sich jedem Kompromiss verweigert. Weiterhin unterstrich das Gericht, dass eine Unterbringung in einem Gemein­schafts­haftraum ohne Trennung der Toiletten durch Wände oder Vorhänge rechtswidrig gewesen wäre. Die Entscheidung des Landgerichts wurde im Berufungs­ver­fahren bestätigt und das Bundes­ver­fas­sungs­gericht lehnte es am 28. Dezember 2004 ab, die Verfas­sungs­be­schwerde Herbert Helligs zur Entscheidung anzunehmen.

Gegen Vollzugsbeamte eingeleitetes Ermitt­lungs­ver­fahren eingestellt

Die von der Staats­an­walt­schaft Gießen gegen die an der Verlegung Herbert Helligs in die Sicher­heitszelle beteiligten Vollzugsbeamten eingeleiteten Ermitt­lungs­ver­fahren wurden im März 2001 eingestellt. Die Staats­an­walt­schaft hob hervor, dass eine Röntgen­un­ter­suchung Herbert Helligs wenige Tage nach seiner Verlegung keinerlei Brüche oder andere Knochen­ver­let­zungen festgestellt habe, und befand, dass sich nicht feststellen lasse, ob seine geringfügigen Verletzungen von den Vollzugsbeamten, insbesondere durch Tritte oder Schläge, verursacht worden oder unvermeidliche Folgen seiner erzwungenen Verlegung in die Sicher­heitszelle gewesen seien.

Strafgefangener reicht Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein

Unter Berufung auf Artikel 3 rügte Herbert Hellig, dass er von den Vollzugsbeamten getreten und geschlagen worden sowie dass er in die Sicher­heitszelle verbracht und dort sieben Tage lang untergebracht worden sei. Die Beschwerde wurde am 31. Mai 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Umgang der Vollzugsbeamten bei Verlegung in Sicher­heitszelle können nicht als unmenschliche Behandlung angesehen werden

Der Gerichtshof erklärte zunächst die Beschwerde Herbert Helligs über die vermeintliche Misshandlung für offensichtlich unbegründet und damit unzulässig. Herbert Hellig hatte keine Beweise vorgelegt, die die Schluss­fol­gerung der deutschen Gerichte widerlegten, wonach er Gewalt gegen die Vollzugsbeamten angewendet habe. Da er zudem nur geringfügig verletzt worden war, hatte der Umgang mit ihm bei seiner Verlegung in die Sicher­heitszelle nicht einen solchen Schweregrad erreicht, dass er als unmenschliche Behandlung gelten könnte.

Dürftige Ausstattung der Zelle für längeren Aufenthalt ungeeignet

Was Herbert Helligs Beschwerde über seine Verlegung in die Sicher­heitszelle und die dortige Haft betraf, war der Gerichtshof der Auffassung, dass ihre dürftige Ausstattung die Zelle für einen längeren Aufenthalt ungeeignet machte. Allerdings war Herbert Helligs Verlegung dorthin nicht als langfristige Maßnahme gedacht, was sich darin zeigte, dass sich die Vollzugsbeamten und der Gefäng­nis­psy­chologe darum bemüht hatten, Herbert Hellig zur Räumung der Zelle zu bewegen und ihn schließlich in das Krankenhaus verlegt hatten, da zu diesem Zeitpunkt offensichtlich keine Einzelzelle verfügbar war.

Behörden hätten Beschwerde über verweigerte Kleidung während des Aufenthalts in der Sicher­heitszelle genauer prüfen müssen

Aus den Eingaben der Parteien geht nicht eindeutig hervor, ob Herbert Hellig während seiner gesamten Unterbringung in der Sicher­heitszelle unbekleidet war. Soweit ersichtlich, hatte er sich während seines dortigen Aufenthalts und in den Verfahren vor den deutschen Gerichten nicht ausdrücklich darüber beschwert, keine Kleidung zur Verfügung gestellt bekommen zu haben. Der Gerichtshof nahm aber die Angabe der Bundesregierung zur Kenntnis, wonach die Unterbringung von Häftlingen in solchen Hafträumen grundsätzlich unbekleidet erfolge, um sie vor Selbst­ver­letzung zu schützen, solange ihr psychischer Zustand solche Handlungen befürchten lasse. Im Übrigen hatte der Gefängnispastor bei seinem Besuch drei Tage nach der Verlegung Herbert Helligs in die Sicher­heitszelle berichtet, dass dieser nackt gewesen sei. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass es ausreichend starke und überein­stimmende Hinweise darauf gab, dass Herbert Hellig während seines gesamten Aufenthalts in der Sicher­heitszelle unbekleidet war. Die Behörden kannten diese Hinweise und hätten den Sachverhalt folglich genauer untersuchen können.

Entzug von Kleidung kann Gefühle der Angst und Minder­wer­tigkeit auslösen

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass der Entzug von Kleidung bei einem Häftling Gefühle der Angst und Minder­wer­tigkeit auslösen konnte, die dazu angetan waren, ihn zu erniedrigen. Zwar zielte die Praxis, einen Häftling ohne Bekleidung in einer Sicher­heitszelle unterzubringen, darauf ab, ihn vor Selbst­ver­letzung zu schützen. Das Landgericht hatte aber nicht mit Sicherheit festgestellt, ob bei Herbert Hellig zum Zeitpunkt seiner Unterbringung in der Zelle eine ernsthafte Selbst­ver­letzungs- oder Selbst­mord­gefahr bestand. Es deutete außerdem nichts darauf hin, dass die Verant­wort­lichen der Haftanstalt andere, weniger stark in die Privatsphäre eingreifende Maßnahmen erwogen hätten, wie etwa den Einsatz reißfester Kleidung, einer vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) empfohlenen Praxis.

Entzug von Kleidung während des gesamten Aufenthalts in der Sicher­heitszelle ungerecht­fertigt

Die siebentägige Unterbringung Herrn Helligs in der Sicher­heitszelle als solche mochte durch die besonderen Umstände des Falls gerechtfertigt gewesen sein. Der Gerichtshof kam aber zu der Auffassung, dass keine ausreichenden Gründe vorlagen, die eine so harte Behandlung wie den Entzug von Kleidung während seines gesamten Aufenthalts in der Sicher­heitszelle gerechtfertigt hätten. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 3 vor.

Strafgefangener erhält Schadensersatz von 13.500 Euro

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Herbert Hellig 10.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 3.500 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht/ra-online

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