21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil12.04.2018

Volljährigkeit während laufendem Asylverfahren: Recht auf Familien­zusammen­führung bleibt für bis dato unbegleiteten Minderjährigen bestehenAntrag auf Familien­zusammen­führung muss innerhalb angemessener Frist gestellt werden

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein unbegleiteter Minderjähriger, der während des Asylverfahrens volljährig wird, sein Recht auf Familien­zusammen­führung behält. Ein solcher Antrag auf Familien­zusammen­führung muss jedoch innerhalb einer angemessenen Frist gestellt werden, d.h. grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist.

Im zugrunde liegenden Fall stellte eine Minderjährige mit eritreischer Staats­an­ge­hö­rigkeit, die unbegleitet in die Niederlande eingereist war, am 26. Februar 2014 einen Asylantrag. Sie wurde am 2. Juni 2014 volljährig. Am 21. Oktober 2014 erteilte der niederländische Staatssekretär ihr einen auf fünf Jahre befristeten Aufent­halt­stitel für Asylberechtigte, der auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zurückwirkte. Am 23. Dezember 2014 stellte eine niederländische Organisation, die sich um Flüchtlinge kümmert (Vluch­te­lin­genWerk Midden-Nederland), einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufent­halt­s­titels für die Eltern der Minderjährigen (A und S) und für ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Famili­en­zu­sam­men­führung mit einem unbegleiteten Minderjährigen. Mit Entscheidung vom 27. Mai 2015 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Tochter von A und S zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährig gewesen sei.

Familie wendet sich gegen Ablehnung der Famili­en­zu­sam­men­führung

Die Eltern A und S wandten sich gegen diese Ablehnung. Sie waren der Auffassung, dass es für die Frage, ob jemand ein "unbegleiteter Minderjähriger" im Sinne der Richtlinie über die Famili­en­zu­sam­men­führung* sei, auf den Zeitpunkt ankomme, zu dem er in den Mitgliedstaat einreise. Nach Ansicht des Staatssekretärs ist dafür der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung maßgeblich.

Die mit der Rechtssache befasste Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag, Niederlande) hat dem Gerichtshof eine Frage zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt.

Entscheidend ist Alter zum Zeitpunkt der Einreise

In seinem Urteil stuft der Gerichtshof Dritt­staats­an­ge­hörige oder Staatenlose, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung ihres Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt sind, während des Asylverfahrens volljährig werden und denen später die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuerkannt wird, als "Minderjährige" ein.

Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung für minderjährige Flüchtlinge ist nicht ins Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt

Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass die Richtlinie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Famili­en­zu­sam­men­führung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen haben und sie daran hindern, dort ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Insbesondere haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein Recht auf eine Famili­en­zu­sam­men­führung, das nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist.

Die Richtlinie regelt zwar nicht ausdrücklich, bis zu welchem Zeitpunkt ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das spezielle Recht auf Famili­en­zu­sam­men­füh­rung** in Anspruch nehmen zu können, doch kann die Bestimmung dieses Zeitpunkts nach Ansicht des Gerichtshofs nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben.

Voraussetzungen zur Beurteilung des Alters eines Flüchtlings für Famili­en­zu­sam­men­führung

Zur Beantwortung der Frage, auf welchen Zeitpunkt zur Beurteilung des Alters eines Flüchtlings letztlich abzustellen ist, damit er als Minderjähriger anzusehen ist und folglich das spezielle Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung in Anspruch nehmen kann, prüft der Gerichtshof im Einzelnen den Wortlaut, die Struktur und das Ziel der Richtlinie unter Berück­sich­tigung des Regelungs­zu­sam­menhangs, in den sie sich einfügt, und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Famili­en­zu­sam­men­führung in Frage gestellt würde, wenn es davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde.

Unter­schiedliche Bearbei­tungsdauer von Anträgen würde zur Ungleich­be­handlung führen

Dies liefe nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Famili­en­zu­sam­men­führung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge (insbesondere unbegleitete Minderjährige) besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleich­be­handlung und der Rechts­si­cherheit zuwider. Eine solche Auslegung hätte nämlich zur Folge, dass zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die ihren Antrag auf internationalen Schutz zum gleichen Zeitpunkt stellen, je nach der Bearbei­tungsdauer ihrer Anträge unterschiedlich behandelt werden könnten. Sie hätte ferner zur Folge, dass es für einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, völlig unvorhersehbar wäre, ob er das Recht auf Famili­en­zu­sam­men­führung mit seinen Eltern in Anspruch nehmen können wird, was die Rechts­si­cherheit beeinträchtigen könnte.

Entscheiden ist Zeitpunkt der Antragstellung

Im Gegensatz dazu ermöglicht es das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, indem sichergestellt wird, dass der Erfolg des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen (wie die Bearbei­tungsdauer des Antrags auf internationalen Schutz oder des Antrags auf Famili­en­zu­sam­men­führung).

Frist beträgt drei Monaten ab Anerkennung des Minderjährigen als Flüchtling

In einer solchen Situation muss jedoch der Antrag auf Famili­en­zu­sam­men­führung innerhalb einer angemessenen Frist gestellt werden, und zwar grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist.

Erläuterungen

* Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2013 (ABl. 2013, L 251, S. 12).

** Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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