21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil07.06.2016

Illegale Einreise eines Dritt­staats­angehörigen berechtigt Mitgliedsstaat nicht zwingend zur Verhängung einer FreiheitsstrafeAuferlegung einer Freiheitsstrafe für illegal aufhältigen Dritt­staaten­angehörigen würde Wirksamkeit der EU-Rück­führungs­richtlinie beeinträchtigen

Die Rück­führungs­richtlinie verbietet es, dass gegen einen Dritt­staats­angehörigen vor der Einleitung eines Rückkehr­ver­fahrens allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann, weil er illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats über eine Binnengrenze des Schengen-Raums eingereist ist. Dies gilt auch, wenn der Dritt­staats­angehörige, der sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nur auf der Durchreise befindet, bei seiner Ausreise aus dem Schengen-Raum festgenommen wird und ein Verfahren für seine Wiederaufnahme in dem Mitgliedstaat, aus dem er kam, eingeleitet wird. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Mit der Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückfüh­rungs­richtlinie)* wurden gemeinsame Normen und Verfahren geschaffen, die die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung von illegal aufhältigen Dritt­staats­an­ge­hörigen aus ihrem Hoheitsgebiet anzuwenden haben. Die Richtlinie sieht vor, dass gegen jeden illegal aufhältigen Dritt­staats­an­ge­hörigen eine Rückkeh­rent­scheidung zu erlassen ist. Diese Entscheidung eröffnet grundsätzlich eine Frist für die freiwillige Rückkehr, der sich, soweit erforderlich, Maßnahmen zur zwangsweisen Abschiebung anschließen. Für den Fall, dass eine freiwillige Ausreise nicht erfolgt, verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, die zwangsweise Abschiebung unter Einsatz von Maßnahmen durchzuführen, durch die so wenig Zwang wie möglich ausgeübt wird. Nur wenn die Abschiebung gefährdet zu werden droht, kann der Mitgliedstaat die betreffende Person in Abschiebehaft nehmen, deren Dauer in keinem Fall 18 Monate überschreiten darf.

Französisches Recht sieht bei illegaler Einreise Freiheitsstrafe von einem Jahr vor

Nach französischem Recht können Drittstaatsangehörige, wenn sie illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist sind, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bestraft werden. Des Weiteren kann in Frankreich eine Person, gegen die ein oder mehrere Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, vorübergehend festgenommen werden, um zur Verfügung der Ermitt­lungs­personen gehalten zu werden (Polizei­ge­wahrsam).

Ghanaische Staats­an­ge­hörige wird wegen illegaler Einreise in Frankreich in Polizei­ge­wahrsam genommen

Frau Sélina Affum, die die ghanaische Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzt, wurde am 22. März 2013 an der Einfahrt zum Ärmelkanal-Tunnel an Bord eines Reisebusses, der aus Gent (Belgien) kam und nach London (Vereinigtes Königreich) fuhr, von der französischen Polizei kontrolliert. Da sie einen belgischen Reisepass mit dem Foto und Namen einer anderen Person vorzeigte und keinen Ausweis oder Reiseunterlagen auf ihren eigenen Namen mit sich führte, wurde sie zunächst wegen illegaler Einreise in das französische Hoheitsgebiet in Polizei­ge­wahrsam genommen. Belgien wurde sodann von den französischen Behörden darum ersucht, Frau Affum wieder in das belgische Hoheitsgebiet aufzunehmen.

Betroffene hält Polizei­ge­wahrsam für rechtswidrig

Da Frau Affum geltend machte, dass sie rechtswidrig in Polizei­ge­wahrsam genommen worden sei, legte die Cour de cassation (französischer Kassa­ti­o­ns­ge­richtshof) dem Gerichtshof die Frage vor, ob nach der Rückfüh­rungs­richtlinie die illegale Einreise eines Dritt­staats­an­ge­hörigen in das nationale Hoheitsgebiet mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann.

Richtlinie steht Verwaltungshaft zur Ermittlung eines möglichen illegalen Aufenthalts nicht entgegen

In seinem Urteil erinnert der Gerichtshof zunächst an seine Rechtsprechung aus dem Urteil Achughbabian, auf die die Vorlagefrage der Cour de cassation eigens Bezug nimmt (vgl. .Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 06.12.2011 - C-329/11 -) Nach dieser Rechtsprechung steht die Rückfüh­rungs­richtlinie einer mitglied­s­taat­lichen Regelung entgegen, die den illegalen Aufenthalt eines Dritt­staats­an­ge­hörigen, für den das von dieser Richtlinie geschaffene Rückkehr­ver­fahren noch nicht abgeschlossen wurde, mit einer Freiheitsstrafe ahndet. Nach dieser Rechtsprechung gestattet es diese Richtlinie jedoch, einen solchen Staats­an­ge­hörigen zu inhaftieren, wenn dieses Verfahren zuvor auf ihn angewandt wurde und er sich ohne einen Recht­fer­ti­gungsgrund weiterhin illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält. Darüber hinaus steht diese Richtlinie auch der Verwaltungshaft zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Dritt­staats­an­ge­hörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen.

Richtlinie auf Dritt­staats­an­ge­hörige wegen illegaler Einreise anwendbar

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die illegale Einreise einen der tatsächlichen Umstände darstellt, der zu einem illegalen Aufenthalt im Sinne der Rückfüh­rungs­richtlinie führen kann. Daher ist die Richtlinie auf einen Dritt­staats­an­ge­hörigen anwendbar, der wie Frau Affum illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und deshalb als dort illegal aufhältig angesehen wird. Infolgedessen ist auf einen solchen Staats­an­ge­hörigen das in der Richtlinie vorgesehene Rückkehr­ver­fahren im Hinblick auf seine Abschiebung anzuwenden, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde.

Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass es die von der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen den Mitgliedstaaten nicht gestatten, einen Staats­an­ge­hörigen wie Frau Affum vom Anwen­dungs­bereich der Richtlinie auszunehmen, weil er eine Binnengrenze des Schengen-Raums (hier die Grenze zwischen Frankreich und Belgien) illegal überschritten hat oder weil er bei dem Versuch, den Schengen-Raum zu verlassen (das Vereinigte Königreich gehört nämlich nicht zu diesem Raum), festgenommen wurde.

Auferlegung einer Freiheitsstrafe würde praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen

Der Umstand, dass bezüglich Frau Affum ein Verfahren für ihre Wiederaufnahme in dem Mitgliedstaat, aus dem sie kam (Belgien), eingeleitet wurde, führt nicht zur Unanwendbarkeit der Richtlinie auf ihren Fall. Die Wiederaufnahme bewirkt nämlich lediglich die Übertragung der Verpflichtung zur Anwendung des Rückkehr­ver­fahrens auf den Mitgliedstaat, der den Staats­an­ge­hörigen wieder aufzunehmen hat (hier: Belgien). Einem illegal aufhältigen Dritt­staats­an­ge­hörigen eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen, würde nämlich die Einleitung dieses Verfahrens und seine effektive Abschiebung verzögern und somit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen.

Auch ledigliche Durchreise durch Hoheitsgebiet kann als illegaler Aufenthalt angesehen werden

Schließlich steht auch die Tatsache, dass Frau Affum sich lediglich auf der Durchreise befand, der Anwendung der Richtlinie nicht entgegen. Denn ein Dritt­staats­an­ge­höriger, der sich an Bord eines Reisebusses befindet, ohne zur Einreise berechtigt gewesen zu sein, ist gleichwohl im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats (hier Frankreich) anwesend und damit dort "illegal aufhältig" im Sinne der Richtlinie, da diese keine Voraussetzungen hinsichtlich der Mindestdauer seiner Anwesenheit oder der Absicht zum Verbleib in diesem Hoheitsgebiet vorsieht.

Da für Frau Affum die Richtlinie gilt, durfte sie, bevor sie dem Rückkehr­ver­fahren unterworfen wurde, nicht allein deshalb inhaftiert werden, weil sie illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist ist. Die französischen Behörden hatten jedoch dieses Verfahren noch nicht einmal eingeleitet.

Illegalen Einreise allein rechtfertigt nicht Inhaftierung von Dritt­staats­an­ge­hörigen

Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten aus denselben Gründen wie denen, die er in seiner Rechtsprechung aus dem Urteil Achughbabian dargelegt hat, nicht allein aufgrund des Umstands einer illegalen Einreise, die zu einem illegalen Aufenthalt führt, die Inhaftierung von Dritt­staats­an­ge­hörigen gestatten können, für die das mit der Richtlinie geschaffene Rückkehr­ver­fahren noch nicht abgeschlossen wurde, da eine solche Inhaftierung geeignet ist, die Anwendung dieses Verfahrens scheitern zu lassen und die Rückführung zu verzögern, und somit die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigt. Der Gerichtshof stellt klar, dass dies jedoch nicht die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten ausschließt, die Verwirklichung anderer Straf­tat­be­stände als derjenigen im Zusammenhang mit dem bloßen Umstand einer illegalen Einreise, einschließlich in den Situationen, in denen das Rückkehr­ver­fahren noch nicht abgeschlossen wurde, mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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