18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil15.12.2016

EuGH bejaht soziale Vergünstigungen auch für Stiefkinder von GrenzgängernKindsverhältnis wird im Bereich grenz­überschrei­tender sozialer Vergünstigungen nicht im rechtlichen sondern im wirtschaft­lichen Sinne definiert

Im Bereich grenz­überschrei­tender sozialer Vergünstigungen kann ein Kind in einer neu zusam­men­ge­setzten Familie als Kind des Stief­el­ternteils angesehen werden. In diesem Bereich wird das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen Sinne, sondern im wirtschaft­lichen Sinne definiert, womit das Kind eines Stief­el­ternteils, der berufstätiger Grenzgänger ist, Anspruch auf eine soziale Vergünstigung hat, wenn dieser Stiefelternteil tatsächlich zu seinem Unterhalt beiträgt. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Zwischen Juli 2013 und Juli 2014 konnten nach luxemburgischem Recht Kinder von Grenzgängern, die in Luxemburg unselbständig oder selbständig beruflich tätig sind, eine finanzielle Studienbeihilfe unter der Voraussetzung beantragen, dass der Grenzgänger zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens fünf Jahre lang ununterbrochen in Luxemburg gearbeitet hatte.

Behörden lehnen Zahlung von Studien­bei­hilfen an "Stiefkinder" ab

Frau Noémie Depesme, Herr Adrien Kauffmann und Herr Maxime Lefort leben jeder in einer neu zusam­men­ge­setzten Familie, die jeweils aus ihrer genetischen Mutter und ihrem Stiefvater besteht (der genetische Vater lebt entweder von der Mutter getrennt oder ist verstorben). Alle drei beantragten für das Studienjahr 2013/2014 in Luxemburg Studien­bei­hilfen, weil ihr jeweiliger Stiefvater dort seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen gearbeitet hatte (keine der Mütter arbeitete hingegen zu dieser Zeit dort). Die luxemburgischen Behörden lehnten diese Anträge mit der Begründung ab, dass Frau Depesme, Herr Kauffmann und Herr Lefort rechtlich nicht "Kinder" eines berufstätigen Grenzgängers seien, sondern nur "Stiefkinder".

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Gegen diese Entscheidungen erhoben die drei Studenten Klage. Die mit diesen Klagen befasste Cour administrative du Luxembourg (Verwal­tungs­ge­richtshof Luxemburg) hat daraufhin dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob im Bereich sozialer Vergünstigungen der Begriff "Kind" auch Stiefkinder einschließen muss. Anders gesagt, geht es um die Frage, ob das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen, sondern im wirtschaft­lichen Sinne aufzufassen ist.

EuGH: Begriff "Familien­an­ge­hörige" erfasst auch Familien­an­ge­hörige von Grenzgängern

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass nach einer Unions­ver­ordnung, nämlich der Verordnung Nr. 492/2001*, Arbeitnehmer aus einem Mitgliedstaat in jedem anderen Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen müssen. Er führt weiter aus, dass auf dem Gebiet der Unions­bür­ger­schaft Kinder durch eine Unions­richtlinie, nämlich die Richtlinie 2004/38**,definiert werden als die Verwandten in gerader absteigender Linie des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Dabei ergibt sich aus der Entwicklung der Unions­vor­schriften, dass die Familien­an­ge­hörigen, denen mittelbar die Gleich­be­handlung nach der Verordnung Nr. 492/2011 zugutekommen kann, die Familien­an­ge­hörigen im Sinne der Definition dieses Begriffs in der Richtlinie 2004/38 sind. Nichts lässt nämlich darauf schließen, dass der Unions­ge­setzgeber in Bezug auf Familien­an­ge­hörige eine strikte Unterscheidung zwischen den jeweiligen Anwen­dungs­be­reichen der Richtlinie2004/38 und der Verordnung Nr. 492/2011 treffen wollte, kraft deren die Familien­an­ge­hörigen eines Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38 nicht zwangsläufig dieselben Personen wären wie die Familien­an­ge­hörigen eines Unionsbürgers, wenn dieser in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer im Anwen­dungs­bereich der Verordnung Nr. 492/2011 gesehen wird. Der Gerichtshof schließt daraus, dass die Kinder des Ehegatten oder des anerkannten Lebenspartners eines Grenzgängers als dessen Kinder angesehen werden können, um in den Genuss einer sozialen Vergünstigung wie einer Studienbeihilfe kommen zu können, zumal eine weitere Unions­richt­li­nie***, die nach den hier streitigen Fällen in Kraft getreten ist, bestätigt, dass der Begriff "Familien­an­ge­hörige" auch die Familien­an­ge­hörigen von Grenzgängern erfasst.

Gründe für Beitrags­leis­tungen zum Unterhalt seitens des Grenzgängers nicht entscheidend

Zu der Frage, inwieweit der berufstätige Grenzgänger zum Unterhalt eines Studenten, zu dem er keine rechtliche Bindung hat, beitragen muss, führt der Gerichtshof aus, dass nach der Rechtsprechung die Eigenschaft als Familien­an­ge­höriger, dem Unterhalt gewährt wird, einer tatsächlichen Situation entspringt und dass dies auch für den Beitrag eines Ehegatten zum Unterhalt seiner Stiefkinder gilt. Somit kann der Beitrag zum Unterhalt des Kindes durch objektive Gesichtspunkte wie die Ehe, eine eingetragene Partnerschaft oder auch eine gemeinsame Wohnung nachgewiesen werden, und zwar ohne hierfür ermitteln zu müssen, aus welchen Gründen der berufstätige Grenzgänger zu diesem Unterhalt beiträgt oder auf welche genaue Höhe sein Beitrag zu beziffern ist. (Es ist darauf hinzuweisen, dass Luxemburg seit dem 24. Juli 2014 das streitige Gesetz geändert hat und nunmehr ausdrücklich vorsieht, dass die Kinder berufstätiger Grenzgänger Studien­bei­hilfen unter der Voraussetzung erhalten können, dass der Grenzgänger weiterhin zum Unterhalt des Studenten beiträgt. Das luxemburgische Gesetz definiert jedoch nicht ausdrücklich, was unter "Kind" zu verstehen ist.)

Erläuterungen
* Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).

** Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S.77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S.35).

*** Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen (ABl. 12014, L 128, S. 8).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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