In Italien unterliegen die Arbeitsverträge von Seeleuten dem Codice della navigazione (Gesetzbuch über die Seeschifffahrt und Luftfahrt). Dieses Gesetzbuch legt die Höchstdauer von befristeten Arbeitsverträgen auf ein Jahr fest und verlangt die Angabe des Anfangszeitpunkts und der Dauer des Vertrags. Für den Fall, dass mehrere Verträge für eine bestimmte Dauer oder für genau bezeichnete Reisen geschlossen werden, wird die Arbeit als ununterbrochen angesehen, wenn zwischen den beiden Verträgen höchstens 60 Tage liegen. Diese Arbeitsverhältnisse unterliegen somit nicht den Vorschriften, die speziell erlassen wurden, um die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge umzusetzen. Diese Rahmenvereinbarung, die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen geschlossen wurde*, stellt die allgemeinen Grundsätze und Minimalvorschriften über befristete Arbeit auf und legt einen allgemeinen Rahmen fest, der die Gleichbehandlung befristet beschäftigter Arbeitnehmer sicherstellen soll.
Herr Maurizio Fiamingo, Herr Leonardo Zappalà, Herr Francesco Rotondo und die anderen Kläger des Ausgangsverfahrens sind im Seemannsregister eingetragene Seeleute. Nach dem Jahr 2001 wurden sie von Rete Ferroviaria Italiana (RFI) auf der Grundlage aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge angeheuert, die für eine oder mehrere Reisen und für höchstens 78 Tage geschlossen wurden. Die betreffenden Seeleute gingen auf Fähren an Bord, um Fahrten zwischen Sizilien und Kalabrien (Messina/Villa San Giovanni, Messina/Reggio Calabria) durchzuführen. Sie arbeiteten mindestens ein Jahr lang für RFI, wobei zwischen zwei Verträgen jedesmal ein Zeitraum von weniger als 60 Tagen lag.
Da sie der Ansicht waren, dass ihre Arbeitsverträge rechtswidrig gekündigt worden seien, klagten die genannten Seeleute vor einem italienischen Gericht auf Nichtigerklärung der Verträge und auf deren Umwandlung in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Außerdem verlangten sie ihre Wiedereinstellung und Schadensersatz.
Die letztinstanzlich mit dem Rechtsstreit befasste Corte di cassazione (Italien) fragt den Gerichtshof der Europäischen Union, ob die Rahmenvereinbarung für die Arbeit zur See gilt und ob nationale Rechtsvorschriften zulässig sind, die zum einen vorsehen, dass befristete Arbeitsverträge die Dauer des Vertrags (nicht aber ihren Endzeitpunkt) angeben müssen, zum anderen nur die Angabe der durchzuführenden Reise(n) als objektive Rechtfertigung ansehen und zudem die Umwandlung der aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverträge in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis in den Fällen vorsehen, in denen der Arbeitnehmer ohne Unterbrechung während mehr als einem Jahr beschäftigt war (wobei das Arbeitsverhältnis als ununterbrochen angesehen wird, wenn zwischen den Verträgen höchstens 60 Tage liegen).
In seinem Urteil weist der Gerichtshof der Europäischen Union zunächst darauf hin, dass der Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung unabhängig von der öffentlichen oder privaten Eigenschaft des Arbeitgebers sämtliche „befristet beschäftigten Arbeitnehmer“ betrifft und dass die Verträge der Seeleute von dieser Rahmenvereinbarung nicht ausgeschlossen sind.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass Arbeitnehmer wie die im Ausgangsverfahren (d. h. Arbeitnehmer, die als Seeleute auf der Grundlage aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge beschäftigt sind und auf Fähren eine Fahrt zwischen zwei in demselben Mitgliedstaat gelegenen Häfen durchführen) in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fallen, da diese keinen bestimmten Wirtschaftszweig ausschließt.
Der Gerichtshof ergänzt, dass die Vereinbarung über das Seearbeitsübereinkommen 2006, das sich im Anhang der Richtlinie über die Arbeit zur See** befindet, nicht auf Seeleute anwendbar ist, die auf Schiffen beschäftigt sind, die (wie im vorliegenden Fall) ausschließlich auf Binnengewässern verkehren. Das Seearbeitsübereinkommen 2006 enthält genauso wie die anderen Bestimmungen der Union über den Seeverkehr keine Vorschriften, die dazu bestimmt sind, die Anwendung des Verbots der Diskriminierung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern sicherzustellen oder die Missbräuche, die sich aus der Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge ergeben, zu verhindern. Daraus folgt, dass für Seeleute jede andere Bestimmung, die spezieller ist oder ein höheres Schutzniveau bietet, Anwendung findet. Das ist bei der Rahmenvereinbarung der Fall.
Außerdem erklärt der Gerichtshof, dass die Rahmenvereinbarung keine Bestimmung zur Frage der formalen Angaben, die in befristeten Arbeitsverträgen stehen müssen, enthält und Italien daher berechtigt war, in Anbetracht des Unionsrechts in seinen Rechtsvorschriften vorzusehen, dass nur die Dauer des Vertrags (und nicht sein Endzeitpunkt) genannt werden müssen.
Der Gerichtshof weist sodann darauf hin, dass sich die Rahmenvereinbarung auf die Idee gründet, dass feste Beschäftigungsverhältnisse einen wichtigen Aspekt des Arbeitnehmerschutzes darstellen. Um die missbräuchliche Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge zu verhindern, verlangt die Rahmenvereinbarung von den Mitgliedstaaten entweder, die sachlichen Gründe, die die Verlängerung des Vertrags rechtfertigen, oder die Höchstdauer der Verträge oder die Zahl der möglichen Verlängerungen des Vertrags vorzusehen. Hingegen verpflichtet sie sie nicht, die Umwandlung befristeter in unbefristete Arbeitsverträge vorzusehen, und schreibt nicht vor, unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge verwendet werden dürfen, sofern das nationale Recht – welche Maßnahme letztlich auch immer gewählt wird – die missbräuchliche Verwendung befristeter Arbeitsverträge wirksam verhindert.
Die nationalen Behörden müssen daher verhältnismäßige, wirksame und abschreckende Maßnahmen erlassen, um die volle Wirksamkeit der zur Durchführung der Rahmenvereinbarung erlassenen Normen sicherzustellen. Nach Ansicht des Gerichtshofs genügen die italienischen Rechtsvorschriften diesen Anforderungen, da sie sowohl eine präventive Maßnahme (Höchstdauer von einem Jahr für aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge) als auch eine Sanktionsmaßnahme im Fall des Missbrauchs vorsieht (Umwandlung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, wenn ein Arbeitnehmer von demselben Arbeitgeber ununterbrochen länger als ein Jahr beschäftigt wurde).
Wenn sie dazu aufgerufen sind, über aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu entscheiden, müssen die nationalen Gerichte die Umstände des Einzelfalls prüfen und dabei die Zahl der aufeinanderfolgenden Verträge berücksichtigen, die mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossen wurden, damit ausgeschlossen wird, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass ein Missbrauch festgestellt werden könnte, wenn die Höchstdauer nicht je nach der Anzahl der von diesen Verträgen abgedeckten Kalendertage, sondern je nach der Anzahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitstage berechnet würde (insbesondere wenn diese Zahl wegen der geringen Häufigkeit von Fahrten deutlich geringer ist).
Erläuterungen
* Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43).
** Richtlinie 2009/13/EG des Rates vom 16. Februar 2009 zur Durchführung der Vereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über das Seearbeitsübereinkommen 2006 und zur Änderung der Richtlinie 1999/63/EG (ABl. L 124, S. 30). Diese Richtlinie setzt die Vereinbarung über das Seearbeitsübereinkommen 2006 um.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 07.07.2014
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online