18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil11.04.2013

Krankheit mit psychischen Einschränkungen kann einer Behinderung gleichzustellen seinEuGH zur möglichen Diskriminierung aufgrund von Behinderungen bei Entlassung mit verkürzter Kündigungsfrist

Eine heilbare oder unheilbare Krankheit, die eine physische, geistige oder psychische Einschränkung mit sich bringt, kann einer Behinderung gleichzustellen sein. Die Verkürzung der Arbeitszeit kann als eine Vorkeh­rungs­maßnahme angesehen werden, die ein Arbeitgeber ergreifen muss, damit Menschen mit Behinderung arbeiten können. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Richtlinie über die Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf* schafft einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen einer Behinderung. Diese Richtlinie wurde mit den dänischen Rechts­vor­schriften über das Verbot der Ungleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt. Außerdem sieht das dänische Arbeitsrecht vor, dass ein Arbeitsgeber den Arbeitsvertrag mit einer "verkürzten Kündigungsfrist" von einem Monat beenden kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krank­heits­bedingt 120 Tage mit Entgelt­fort­zahlung abwesend war.

Arbeitgeber hätten Arbeit­neh­me­rinnen aufgrund der Behinderung Arbeits­zeit­ver­kürzung anbieten müssen

Im vorliegenden Fall hat HK Danmark, eine dänische Gewerkschaft, zwei Schaden­s­er­satz­klagen im Namen zweier Arbeit­neh­me­rinnen wegen deren Entlassung mit verkürzter Kündigungsfrist erhoben. HK Danmark macht geltend, dass die Arbeitgeber den beiden Arbeit­neh­me­rinnen eine Arbeits­zeit­ver­kürzung hätten anbieten müssen, da bei ihnen eine Behinderung vorgelegen habe. Auch sei die nationale Bestimmung über die verkürzte Kündigungsfrist auf diese beiden Arbeit­neh­me­rinnen nicht anwendbar, da ihre krank­heits­be­dingten Fehlzeiten auf die Behinderung zurückzuführen seien.

Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH über möglichen Verstoß gegen das Unionsrecht durch dänisches Gesetz über verkürzte Kündigungsfrist

Das Sø- og Handelsret (See- und Handelsgericht, Dänemark), bei dem diese beiden Rechtssachen anhängig sind, ersucht den Gerichtshof um Erläuterung des Begriffs der Behinderung. Es möchte auch wissen, ob die Arbeits­zeit­ver­kürzung als eine angemessene Vorkeh­rungs­maßnahme angesehen werden kann und ob das dänische Gesetz über die verkürzte Kündigungsfrist gegen das Unionsrecht verstößt.

Begriff der Behinderung ist von dem der Krankheit zu unterscheiden

Da der Begriff der Behinderung in der Richtlinie nicht definiert ist, hat der Gerichtshof ihn im Urteil Chacón Navas** bestimmt. Er hat entschieden, dass dieser Begriff von dem der Krankheit zu unterscheiden und dahin zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung von langer Dauer erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beein­träch­ti­gungen zurückzuführen ist und ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet. Nach diesem Urteil hat die Union das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert***. Daraus folgt, dass die Richtlinie nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen ist.

Begriff "Behinderung" impliziert nicht unbedingt den vollständigen Ausschluss von der Arbeit oder vom Berufsleben

In seinem Urteil hat der Gerichtshof zunächst klargestellt, dass der Begriff "Behinderung" dahin auszulegen ist, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beein­träch­ti­gungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleich­be­rechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Der Gerichtshof führt aus, dass der Begriff "Behinderung", anders als die Arbeitgeber in diesen beiden Rechtssachen geltend machen, nicht unbedingt den vollständigen Ausschluss von der Arbeit oder vom Berufsleben impliziert. Ferner hängt die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung nicht von der Art der zu treffenden Vorkeh­rungs­maß­nahmen, wie z. B. der Verwendung besonderer Hilfsmittel, ab. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob bei den Arbeit­neh­me­rinnen im vorliegenden Fall Behinderungen vorlagen.

Arbeits­zeit­ver­kürzung kann angemessene Vorkeh­rungs­maßnahme sein, um Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung zu ermöglichen

Der Gerichtshof weist sodann darauf hin, dass die Richtlinie den Arbeitgeber verpflichtet, geeignete und angemessene Vorkeh­rungs­maß­nahmen zu ergreifen, insbesondere um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Der Gerichtshof stellt fest, dass eine Arbeits­zeit­ver­kürzung, selbst wenn sie nicht unter den in der Richtlinie ausdrücklich erwähnten Begriff des "Arbeitsrhythmus" fiele, in Fällen, in denen sie es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Arbeit weiter auszuüben, als eine geeignete Vorkeh­rungs­maßnahme angesehen werden kann.

Nationales Gericht muss mögliche unver­hält­nis­mäßige Belastung der Arbeitgeber prüfen

Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Verkürzung der Arbeitszeit als Vorkeh­rungs­maßnahme im vorliegenden Fall eine unver­hält­nis­mäßige Belastung der Arbeitgeber darstellt.

Verkürzte Kündi­gungs­fristen ohne vorherige angemessene Vorkeh­rungs­maß­nahmen des Arbeitgebers stehen Richtlinie entgegen

Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Richtlinie einer nationalen Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einer verkürzten Kündigungsfrist beenden kann, wenn der behinderte Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krank­heits­bedingt 120 Tage mit Entgelt­fort­zahlung abwesend war, entgegensteht, wenn diese Fehlzeiten darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber nicht die geeigneten und angemessenen Vorkeh­rungs­maß­nahmen ergriffen hat, damit die behinderte Person arbeiten kann.

EuGH zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung

Schließlich äußert sich der Gerichtshof zu der Frage, ob die nationale Bestimmung über die verkürzte Kündigungsfrist zu einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung führen kann. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person wegen einer Behinderung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person. Eine mittelbare Diskriminierung ist zu bejahen, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer Behinderung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, dies kann gerechtfertigt werden.

Nationale Regelung kann zu einer auf der Behinderung beruhenden Ungleich­be­handlung führen

Der Gerichtshof führt aus, dass die nationale Bestimmung in gleicher Weise auf behinderte und nichtbehinderte Menschen anwendbar ist, die krank­heits­bedingt mehr als 120 Tage abwesend sind. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass diese Bestimmung eine unmittelbar auf der Behinderung beruhende Ungleich­be­handlung schafft. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass ein behinderter Arbeitnehmer einem höheren Risiko ausgesetzt ist, dass ihm gegenüber die verkürzte Kündigungsfrist angewandt wird, als ein nicht behinderter Arbeitnehmer, da er ein zusätzliches Risiko trägt, an einer mit seiner Behinderung zusam­men­hän­genden Krankheit zu erkranken. Diese Bestimmung kann demnach behinderte Arbeitnehmer benachteiligen und so zu einer mittelbar auf der Behinderung beruhenden Ungleich­be­handlung führen.

Nationales Gericht muss mögliche Benach­tei­li­gungen von Arbeitnehmern mit Behinderung prüfen

Der Gerichtshof antwortet, dass die Richtlinie einer solchen nationalen Bestimmung entgegensteht, es sei denn, diese Bestimmung verfolgt ein rechtmäßiges Ziel und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist. Insoweit ist es Sache des nationalen Gerichts, unter Berück­sich­tigung des Wertungs­spielraums, der den Mitgliedstaaten im Bereich der Sozial- und Beschäf­ti­gungs­politik zukommt, zu prüfen, ob der dänische Gesetzgeber es bei der Verfolgung der rechtmäßigen Ziele, die Einstellung kranker Personen einerseits und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den wider­strei­tenden Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers andererseits zu fördern, unterlassen hat, relevante Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die insbesondere Arbeitnehmer mit Behinderung betreffen.

Erläuterungen
* Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16-22).

** Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juli 2006, Sonia Chacón Navas/Eurest Colectividades SA (C-13/05).

*** Beschluss des Rates vom 26. November 2009 über den Abschluss des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. L 23 vom 27.1.2010, S. 35-61).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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