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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.12.2012

Sozialplan darf geminderte Entlas­sungs­ab­findung für kurz vor dem Renteneintritt stehende Arbeitnehmer vorsehenBerück­sich­tigung einer vorzeitigen Altersrente wegen Behinderung stellt jedoch Diskriminierung dar

Ein Sozialplan darf eine geminderte Entlas­sungs­ab­findung für Arbeitnehmer vorsehen, die kurz vor dem Renteneintritt stehen. Es stellt jedoch eine nach dem Unionsrecht verbotene Diskriminierung dar, wenn bei der Berechnung dieser Minderung die Möglichkeit einer vorzeitigen Altersrente wegen einer Behinderung berücksichtigt wird. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Der zwischen dem deutschen Unternehmen Baxter und dessen Betriebsrat geschlossene Sozialplan sieht vor, dass der Abfin­dungs­betrag für Arbeitnehmer bei betrie­bs­be­dingter Kündigung insbesondere von der Dauer ihrer Betrie­bs­zu­ge­hö­rigkeit abhängt (Standa­rd­be­rech­nungs­methode). Für Arbeitnehmer, die älter als 54 Jahre sind, sieht dieser Plan jedoch vor, dass die Abfindung auf der Grundlage ihres frühest­mög­lichen Rentenbeginns berechnet wird (alternative Methode). Die diesen Arbeitnehmern zu zahlende Abfindung ist geringer als die Summe, die sich nach der Standardmethode ergeben würde; sie muss allerdings mindestens die Hälfte dieser Summe betragen.

Ungleich­be­handlung aufgrund des Alters bei betrie­bs­be­dingter Kündigung

Herr Odar, der mehr als 30 Jahre bei Baxter beschäftigt war, ist als Schwerbehinderter anerkannt. Nach Beendigung seines Arbeits­ver­hält­nisses mit dem Unternehmen erhielt er aufgrund des Sozialplans eine Entlassungsabfindung. Da er über 54 Jahre alt war, erhielt er einen geringeren als den Betrag, auf den er bei niedrigerem Alter Anspruch gehabt hätte. Die im Sozialplan vorgesehene Berech­nungs­methode bei betrie­bs­be­dingter Kündigung stellt somit eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleich­be­handlung dar.

Gerichtshof soll sich zur Vereinbarkeit einer eventuellen Ungleich­be­handlung mit Unionsrecht äußern

Wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, eine vorzeitige Altersrente wegen einer Behinderung zu erhalten, sieht der Sozialplan darüber hinaus vor, dass bei der Berechnung nach der alternativen Methode auf diesen Zeitpunkt abgestellt wird. Da Herr Odar der Ansicht war, dass er durch diese Berechnung der Abfindung wegen seines Alters und seiner Behinderung benachteiligt werde, erhob er beim Arbeitsgericht München (Deutschland) Klage gegen Baxter. Dieses Gericht hat beschlossen, den Gerichtshof zur Vereinbarkeit einer sich möglicherweise aus dem Sozialplan ergebenden Ungleich­be­handlung mit dem Unionsrecht, das jede Diskriminierung wegen des Alters oder der Behinderung verbietet, zu befragen.

Unionsrecht steht Regelung im Sozialplan keineswegs entgegen

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass das im Unionsrecht vorgesehene Verbot jeder Diskriminierung wegen des Alters der Regelung in einem Sozialplan, nach der – wie im vorliegenden Fall – bei der Berechnung der Entlas­sungs­ab­findung anhand des Alters differenziert wird, nicht entgegenstehe. Eine solche Ungleich­be­handlung könne nämlich durch das Ziel gerechtfertigt werden, einen Ausgleich für die Zukunft zu gewähren und die jüngeren Arbeitnehmer zu schützen sowie ihre berufliche Wieder­ein­glie­derung zu unterstützen, und sie trage zugleich der Notwendigkeit einer gerechten Verteilung der begrenzten finanziellen Mittel eines Sozialplans Rechnung. Darüber hinaus sei es legitim, zu vermeiden, dass eine Entlas­sungs­ab­findung Personen zugutekommt, die keine neue Stelle suchen, sondern ein Ersatzeinkommen in Form einer Altersrente beziehen wollen.

Abfin­dungs­betrag muss mindestens der Hälfte des sich nach der Standardformel ergebenden Betrags entsprechen

Eine Regelung wie die hier vorliegende erscheine nicht offensichtlich unangemessen und gehe nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinaus. Dabei hebt der Gerichtshof hervor, dass der Sozialplan die Minderung des Abfin­dungs­betrags bei Entlassung vorsehe, dieser Betrag sich aber dem Alter entsprechend schrittweise ändere und mindestens der Hälfte des sich nach der Standardformel ergebenden Betrags entsprechen müsse. Der Gerichtshof führt zudem aus, dass die in Rede stehende Regelung die Frucht einer von Arbeitnehmer- und Arbeit­ge­ber­ver­tretern ausgehandelten Vereinbarung sei, die dabei ihr als Grundrecht anerkanntes Recht auf Kollek­tiv­ver­hand­lungen ausgeübt habe. Dass es damit den Sozialpartnern überlassen ist, einen Ausgleich zwischen ihren Interessen festzulegen, biete eine nicht unerhebliche Flexibilität, da jede der Parteien gegebenenfalls die Vereinbarung kündigen könne.

Steigendes Risiko für Schwer­be­hinderte bei Annäherung an das Renten­ein­tritt­salter

Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das im Unionsrecht vorgesehene Verbot jeder Diskriminierung wegen der Behinderung der fraglichen Regelung entgegenstehe, soweit bei der Anwendung der alternativen Methode auf die Möglichkeit, eine vorzeitige Altersrente wegen einer Behinderung zu erhalten, abgestellt würde. Durch diese Ungleich­be­handlung nicht­be­hin­derter Arbeitnehmer und behinderter Arbeitnehmer werde nämlich sowohl das Risiko für Schwer­be­hinderte – die im Allgemeinen größere Schwierigkeiten als nichtbehinderte Arbeitnehmer haben, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern – als auch die Tatsache verkannt, dass das Risiko steigt, je mehr sie sich dem Renteneintrittsalter nähern. Schwer­be­hinderte hätten jedoch spezifische Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Schutz, den ihr Zustand erfordere, und mit der Notwendigkeit, dessen mögliche Verschlech­terung zu berücksichtigen. Daher sei dem Risiko Rechnung zu tragen, dass Schwer­be­hinderte unabweisbaren finanziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgesetzt seien und/oder dass sich diese finanziellen Aufwendungen mit zunehmendem Alter erhöhen.

Regelung bewirkt übermäßige Beein­träch­tigung legitimer Interessen schwer­be­hin­derter Arbeitnehmer

Die in Rede stehende Regelung, die bei betrie­bs­be­dingter Kündigung dazu führt, dass ein schwer­be­hin­derter Arbeitnehmer eine geringere Abfindung erhält als ein nicht­be­hin­derter Arbeitnehmer, bewirke folglich eine übermäßige Beein­träch­tigung der legitimen Interessen schwer­be­hin­derter Arbeitnehmer. Diese Regelung gehe über das hinaus, was zur Erreichung der mit ihr verfolgten sozia­l­po­li­tischen Ziele erforderlich sei.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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