15.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil14.06.2016

Aufenthalts­erlaubnis als Voraussetzung für Kindergeldbezug von EU-Bürger im Vereinigten Königreich zulässigDaraus resultierende Diskriminierung zum Schutz der Finanzen des Aufnahme­mitglied­staats gerechtfertigt

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass das Vereinigte Königreich verlangen kann, dass Bezieher von Kindergeld und der Steuer­gut­schrift für Kinder ein Recht auf Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet haben. Diese Voraussetzung stellt zwar eine mittelbare Diskriminierung dar, ist aber durch die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahme­mitglied­staats zu schützen, gerechtfertigt.

Die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit* sieht eine Reihe von gemeinsamen Grundsätzen vor, die die Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet einhalten müssen, so dass die einzelnen nationalen Systeme niemanden, der von seinem Recht auf Freizügigkeit und seinem Aufent­haltsrecht in der Union Gebrauch macht, benachteiligen. Einer dieser allgemeinen Grundsätze ist der Gleich­be­hand­lungs­grundsatz. Im Rahmen der sozialen Sicherheit kommt dieser Grundsatz durch das Verbot einer Ungleich­be­handlung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit zum Ausdruck.

Kommission hält Bedingungen zum Bezug bestimmter Sozia­l­leis­tungen für diskriminierend

Bei der Kommission gingen zahlreiche Beschwerden von sich im Vereinigten Königreich aufhaltenden nicht britischen EU-Bürgern ein. Diese Bürger beschwerten sich darüber, dass sich die zuständigen britischen Behörden weigerten, ihnen bestimmte soziale Leistungen zu gewähren, weil sie kein Aufent­haltsrecht in diesem Land besäßen. Nach Auffassung der Kommission entsprechen die britischen Rechts­vor­schriften nicht den Bestimmungen der Verordnung; sie hat daher gegen das Vereinigte Königreich eine Vertrags­ver­let­zungsklage erhoben. Sie hat darauf hingewiesen, dass die britischen Rechts­vor­schriften bei einem Antrag auf bestimmte soziale Leistungen – dazu gehören, wie im vorliegenden Fall in Rede stehend, das Kindergeld und die Steuer­gut­schrift für Kinder – eine Prüfung vorschreiben, ob sich der jeweilige Antragsteller rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhalte. Die Kommission hält diese Bedingung für diskriminierend und für mit dem Geist der genannten Verordnung unvereinbar, die lediglich auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antragstellers abstelle. Das Kindergeld ("child benefit") und die Steuer­gut­schrift für Kinder ("child tax credit") sind Geldleistungen, die aus Steuermitteln und nicht aus Beiträgen der Empfänger finanziert werden. Sie haben den gemeinsamen Zweck, zur Finanzierung der Familienlasten beizutragen. Für die Gewährung dieser beiden Leistungen ist nach den britischen Rechts­vor­schriften vorgeschrieben, dass sich der Antragsteller im Vereinigten Königreich aufhalten muss. Dieses Erfordernis ist lediglich dann erfüllt, wenn der Antragsteller sich physisch im Vereinigten Königreich befindet, seinen ordentlichen Wohnsitz im Vereinigten Königreich hat und über ein Aufent­haltsrecht im Vereinigten Königreich verfügt.

Erfordernis eines Aufent­halts­rechts stellt verhält­nis­mäßige Maßnahme dar

Das Vereinigte Königreich beruft sich demgegenüber auf das Urteil Brey (Urteil des EuGH vom 19.09.2013, C-140/12), wonach der Aufnah­me­mit­gliedstaat die Gewährung von Sozia­l­leis­tungen an Unionsbürger von dem Erfordernis abhängig machen könne, dass diese die im Wesentlichen in einer Richtlinie der Union** festgelegten Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnah­me­mit­gliedstaat erfüllten. Das Vereinigte Königreich räumt zwar ein, dass seine eigenen Staats­an­ge­hörigen leichter die Voraussetzungen für die Gewährung der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Sozia­l­leis­tungen erfüllen könnten (weil sie grundsätzlich zum Aufenthalt berechtigt seien), doch stelle das Erfordernis eines Aufent­halts­rechts jedenfalls eine verhält­nis­mäßige Maßnahme dar, um sicherzustellen, dass die Leistungen nur an Personen gezahlt würden, die im Vereinigten Königreich ausreichend integriert seien.

Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung soll gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte verhindern

In seinem Urteil weist der Gerichtshof die Klage der Kommission ab. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die in Rede stehenden Leistungen solche der sozialen Sicherheit sind und damit in den Geltungsbereich der Verordnung fallen. Sodann weist der Gerichtshof das Hauptargument der Kommission zurück, wonach die britischen Rechts­vor­schriften eine zusätzliche Voraussetzung zu der in der Verordnung vorgesehenen Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts aufstellten. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung keine notwendige Voraussetzung für den Anspruch auf die Leistungen ist, sondern eine "Kollisionsnorm", die die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte vermeiden und verhindern soll, dass Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, der Schutz vorenthalten wird. Die Verordnung schafft kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unter­schiedliche nationale Systeme bestehen. Sie legt somit nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf die Leistungen fest, denn es ist grundsätzlich Sache der Rechts­vor­schriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen. In diesem Rahmen spricht nichts dagegen, dass die Gewährung von Sozia­l­leis­tungen an Unionsbürger, die nicht erwerbstätig sind, von dem Erfordernis abhängig gemacht wird, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnah­me­mit­gliedstaat erfüllen.

Voraussetzung des Rechts auf Aufenthalt stellt zulässige Ungleich­be­handlung dar

Zu dem von der Kommission hilfsweise vorgetragenen Argument, dass die Prüfung des Aufent­halts­rechts eine Diskriminierung darstelle, stellt der Gerichtshof fest, dass die Voraussetzung des Rechts auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich eine Ungleich­be­handlung bewirkt, weil die Staats­an­ge­hörigen des Aufnah­me­mit­glied­staats sie leichter erfüllen können als die Staats­an­ge­hörigen anderer Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass diese Ungleich­be­handlung durch ein legitimes Ziel wie etwa die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnah­me­mit­gliedstaat zu schützen, gerechtfertigt werden kann, sofern sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts erfolgt nur im Zweifelsfall

Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass die nationalen Behörden die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Einklang mit den in der Richtlinie über die Freizügigkeit vorgesehenen Voraussetzungen prüfen. Diese Prüfung erfolgt nicht systematisch bei jedem Antrag, sondern nur im Zweifelsfall. Folglich geht die Voraussetzung nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um das vom Vereinigten Königreich verfolgte legitime Ziel, nämlich den notwendigen Schutz seiner Finanzen, zu erreichen.

Erläuterungen
* Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 166, S. 1).

** Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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