21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil24.01.2012

EuGH: Recht auf bezahlten Jahresurlaub darf nicht von effektiver Minde­st­a­r­beitszeit abhängig seinAbhängigkeit des Jahresurlaubs von effektiver Minde­st­a­r­beitszeit von zehn Tagen während des Bezugszeitraums unzulässig

Eine nationale Regelung, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Minde­st­a­r­beitszeit von zehn Tagen abhängt, steht der Richtlinie über Arbeits­zeit­ge­staltung entgegen. Dieses Recht darf nicht beeinträchtigt werden, wenn der Arbeitnehmer infolge einer Krankheit oder infolge eines Unfalls am Arbeitsplatz oder anderswo ordnungsgemäß krank­ge­schrieben ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Die Richtlinie über die Arbeits­zeit­ge­staltung* verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Erlass der erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindest­jah­res­urlaub von vier Wochen gemäß den einzel­staat­lichen Rechts­vor­schriften erhält (Art. 7).

Sachverhalt

Frau Dominguez erlitt im Dezember 2005 auf dem Weg von ihrer Wohnung zu ihrem Arbeitsort einen Unfall. Aufgrund dessen war sie vom 3. November 2005 bis 7. Januar 2007 krank­ge­schrieben. Sie wandte sich an die französischen Gerichte, um für diesen Zeitraum 22,5 Urlaubstage zu erhalten, die ihr Arbeitgeber, das Centre informatique du Centre Ouest Atlantique (CICOA) ihr verwehrt hatte; hilfsweise beantragte sie die Zahlung einer Urlaub­s­ab­geltung von etwa 1.970 Euro. Frau Dominguez macht geltend, dass der Wegeunfall ein Arbeitsunfall gewesen sei, der der Regelung für Arbeitsunfälle unterliege. Der Zeitraum der durch den Wegeunfall bedingten Arbeits­un­ter­brechung müsse für die Berechnung ihres bezahlten Urlaubs tatsächlicher Arbeitszeit gleichgesetzt werden. Da dem Begehren von Frau Dominguez nicht stattgegeben wurde, erhob sie Kassa­ti­o­ns­be­schwerde.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit der Richtlinie über Arbeits­zeit­ge­staltung

Die Cour de cassation (Frankreich) hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die französische Regelung, nach der ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nur entsteht, wenn der Arbeitnehmer mindestens zehn Tage (oder einen Monat vor Februar 2008) beim selben Arbeitgeber im Bezugszeitraum (grundsätzlich ein Jahr) gearbeitet hat, mit der Richtlinie vereinbar ist. Die französische Regelung erkennt Fehlzeiten infolge eines Arbeitsunfalls als effektive Arbeitszeiten an, ohne in diesem Zusammenhang den Wegeunfall zu erwähnen.

Abhängigkeit des Jahresurlaubs von Minde­st­a­r­beitszeit von zehn Tagen während des Bezugszeitraums steht Richtlinie entgegen

Im Urteil antwortet der Gerichtshof erstens, dass die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Minde­st­a­r­beitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängt.

Mitglieds­s­taaten dürfen Entstehung des Urlaubs­an­spruchs nicht von nationaler Voraussetzung abhängig machen

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen. Zwar können die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung dieses Anspruchs festlegen, sie dürfen dabei aber die Entstehung dieses Anspruchs selbst nicht von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen und bereits die Entstehung des ausdrücklich allen Arbeitnehmern zuerkannten Anspruchs ausschließen.

Im Übrigen hat der Gerichtshof bestätigt, dass in der Richtlinie nicht zwischen Arbeitnehmern, die während des Bezugszeitraums wegen Krankheit der Arbeit ferngeblieben sind, und solchen, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben, unterschieden wird (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 20.01.2009 - C-350/06, C-520/06 -. Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat den nach der Richtlinie allen Arbeitnehmern zustehenden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei ordnungsgemäß krank­ge­schriebenen Arbeitnehmern nicht von der Voraussetzung abhängig machen kann, dass sie während des von diesem Staat festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben.

Nationales Recht muss so nah wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausgelegt werden

Zweitens hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die nationalen Gerichte bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses soweit wie möglich anhand des Wortlautes und des Zwecks der Richtlinie auslegen müssen. Um die volle Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten, wird das nationale Gericht zu prüfen haben, ob es das innerstaatliche Recht in einer Weise auslegen kann, die es erlaubt, die Fehlzeiten des Arbeitnehmers aufgrund eines Wegeunfalls Fehlzeiten aufgrund eines Arbeitsunfalls gleichzustellen. Nach der Richtlinie darf das Recht eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nicht beeinträchtigt werden, gleich, ob er während des Bezugszeitraums infolge eines Unfalls am Arbeitsplatz oder anderswo oder aber infolge einer Krankheit, welcher Art oder welchen Ursprungs auch immer, krank­ge­schrieben ist.

Nationales Gericht muss prüfen, ob klagende Arbeitnehmerin sich unmittelbar auf Richtlinie berufen kann

Sollte eine solche richt­li­ni­en­konforme Auslegung des inner­staat­lichen Rechts jedoch nicht möglich sein, wird das nationale Gericht zu prüfen haben, ob ein Arbeitnehmer wie Frau Dominguez sich unmittelbar auf die Richtlinie berufen kann. Dazu stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Bestimmungen der Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, damit sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann. Da der Einzelne sich nicht gegenüber Privaten unmittelbar auf eine Richtlinie berufen kann, wird das nationale Gericht, wie der Gerichtshof weiter ausführt, zu prüfen haben, ob die Richtlinie gegenüber dem CICOA aufgrund der Eigenschaft, in der dieses handelt (Einrichtung des privaten oder des öffentlichen Rechts), geltend gemacht werden kann. Wenn die Richtlinie gegenüber dem CICOA geltend gemacht werden kann, muss das nationale Gericht jede entge­gen­stehende innerstaatliche Rechts­vor­schrift unangewendet lassen.

Angestellte kann ggf. Haftungsklage gegen Staat erheben

Kann die Richtlinie nicht unmittelbar geltend gemacht werden, könnte Frau Dominguez eine Haftungsklage gegen den Staat erheben, um den Schaden ersetzt zu bekommen, der ihr wegen Verletzung ihres Rechts aus der Richtlinie auf bezahlten Jahresurlaub entstanden ist (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 19.11.1991, - C-6/90 und C-9/90 -).

Drittens stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten erlaubt, einen Urlaub von unter­schied­licher Länge je nach dem Grund der krank­heits­be­dingten Fehlzeiten vorzusehen, sofern die Dauer dieses Urlaubs länger als die von der Richtlinie gewährleistete Mindestdauer von vier Wochen oder genauso lang wie diese ist.

Erläuterungen

*Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeits­zeit­ge­staltung (ABl. L 299, S. 9).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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