18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil18.12.2014

Vereinigtes Königreich darf Besitzer einer "Aufent­haltskarte für Familien­an­ge­hörige eines Unionsbürgers" für Einreise nicht zur Beschaffung eines Visums verpflichtenFamilien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers unterliegt nicht der Visumspflicht

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass das Vereinigte Königreich das Recht eines Dritt­staats­angehörigen auf Einreise nicht von der vorherigen Beschaffung eines Visums abhängig machen darf, wenn er im Besitz einer "Aufent­haltskarte für Familien­an­ge­hörige eines Unionsbürgers" ist. Die Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger lässt keine Maßnahmen zu, die Familien­an­ge­hörige in Verfolgung eines genera­l­prä­ventiven Zwecks daran hindern, ohne Visum in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen.

Herr Sean Ambrose McCarthy besitzt sowohl die britische als auch die irische Staats­an­ge­hö­rigkeit. Er ist mit der kolumbianischen Staats­an­ge­hörigen Helena Patricia McCarthy Rodriguez verheiratet, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. Seit 2010 wohnt die Familie in Spanien, wo sie ein Haus besitzt. Die Eheleute reisen regelmäßig in das Vereinigte Königreich, wo sie ebenfalls ein Haus besitzen. Frau McCarthy Rodriguez ist im Besitz einer von den spanischen Behörden ausgestellten „Aufent­haltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers“. Nach den britischen Einwan­de­rungs­vor­schriften müssen auch Inhaber einer solchen Karte eine sechs Monate gültige Einrei­se­er­laubnis („EEA family permit“) beantragen, um in das Vereinigte Königreich einreisen zu können. Um das EEA family permit verlängern zu lassen, muss sich sein Inhaber persönlich in eine diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs im Ausland begeben und ein Formular ausfüllen, das Fragen zu seinen Existenzmitteln und seiner beruflichen Situation enthält.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Frag der Notwendigkeit eines Visums trotz Besitz einer Aufent­haltskarte

Da die Familie McCarthy durch diese nationalen Bestimmungen ihr Recht auf Freizügigkeit verletzt sieht, erhob sie 2012 Klage vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), des Vereinigten Königreichs. Dieses Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob Dritt­staats­an­ge­hörige im Hinblick auf die Richtlinie 2004/38* und das Protokoll Nr. 20 generell verpflichtet werden können, sich für die Einreise in das britische Hoheitsgebiet ein Visum zu beschaffen, obwohl sie bereits im Besitz einer Aufent­haltskarte sind.

Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers unterliegt nicht der Visumspflicht

Der Gerichtshof bestätigt, dass die Richtlinie 2004/38 auf die Situation der Familie McCarthy anwendbar ist. Sie findet auf jeden Unionsbürger Anwendung, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit er besitzt, niedergelassen hat, sowie auf seine Familien­an­ge­hörigen. Aus der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nicht, dass das Recht auf Einreise der Familien­an­ge­hörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, und ihre in Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Entbindung von der Visumspflicht auf andere Mitgliedstaaten als den Herkunfts­mit­gliedstaat des Unionsbürgers beschränkt wären. Daher unterliegt ein in der Situation von Frau McCarthy Rodriguez befindlicher Familien­an­ge­höriger eines Unionsbürgers, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet des Herkunfts­mit­glied­staats des Unionsbürgers nicht der Visumspflicht oder einer entsprechenden Verpflichtung.

Sodann prüft der Gerichtshof, ob und unter welchen Voraussetzungen es die Richtlinie 2004/38 einem Mitgliedstaat gestattet, zur Bekämpfung eines allgemeinen Risikos des Rechts­miss­brauchs oder systemischen Betrugs die Einreise von der vorherigen Ausstellung einer Einrei­se­er­laubnis abhängig zu machen.

Nationale Behörden sind zur Anerkennung einer Aufent­haltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise verpflichtet

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedstaaten nur nach individueller Prüfung jedes Einzelfalls auf der Grundlage von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlassen dürfen, mit denen ein durch diese Richtlinie verliehenes Recht im Fall von Rechts­miss­brauch oder Betrug verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden soll. Daher sind die nationalen Behörden verpflichtet, eine nach den Bestimmungen der Richtlinie von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Aufent­haltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen, es sei denn, aufgrund konkreter Anhaltspunkte im jeweiligen Einzelfall, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechts­miss­brauchs oder Betrugs zulassen, bestehen Zweifel an der Echtheit dieser Karte und der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben.

Nationale Regelung setzt auch für Angehörige eines Unionsbürgers Beschaffung einer Einrei­se­er­laubnis voraus

Nach der fraglichen Regelung setzt die Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs selbst in Fällen, in denen die nationalen Behörden nicht der Auffassung sind, dass der Familien­an­ge­hörige des Unionsbürgers in einen Rechts­miss­brauch oder Betrug involviert sein könnte, die vorherige Beschaffung einer Einrei­se­er­laubnis voraus. Daher werden Familien­an­ge­hörige, die im Besitz einer gültigen Aufent­haltskarte sind, durch diese Regelung absolut und automatisch daran gehindert, ohne Visum in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einzureisen, obwohl ihnen dieses Recht auf Einreise durch die Richtlinie verliehen wird.

Nationale Maßnahmen in keinem Fall zu rechtfertigen

Der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat mit einer hohen Zahl von Rechts­miss­brauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Dritt­staats­an­ge­hörigen begangen werden, kann mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der Richtlinie 2004/38 den Erlass einer Maßnahme, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens des Betroffenen auf genera­l­prä­ventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen. Solche Maßnahmen würden nämlich, wie im vorliegenden Fall, implizieren, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines den Familien­an­ge­hörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch die Richtlinie 2004/38 ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern, obwohl sie die in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllen. Ferner würden solche Maßnahmen durch ihren Automatismus in den Wesenskern des elementaren und individuellen Rechts der Unionsbürger eingreifen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

Angehörigen von Unionsbürgern dürfen keine Voraussetzungen für Einreise auferlegt werden

Schließlich stellt der Gerichtshof zum Protokoll Nr. 20 fest, dass sich die Überprüfung an den Grenzen, die das Vereinigte Königreich nach diesem Protokoll durchführen darf, darauf erstrecken kann, ob die fraglichen Dokumente echt und die darin enthaltenen Angaben richtig sind, sowie auf konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechts­miss­brauchs oder eines Betrugs zulassen. Es ist hingegen weder gestattet, die Voraussetzungen für die Einreise von Personen, die nach dem Unionsrecht über ein Recht auf Einreise verfügen, festzulegen, noch dürfen ihnen zusätzliche oder andere als die im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen für die Einreise auferlegt werden.

Erläuterungen
* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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