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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil18.12.2014
Vereinigtes Königreich darf Besitzer einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" für Einreise nicht zur Beschaffung eines Visums verpflichtenFamilienangehöriger eines Unionsbürgers unterliegt nicht der Visumspflicht
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass das Vereinigte Königreich das Recht eines Drittstaatsangehörigen auf Einreise nicht von der vorherigen Beschaffung eines Visums abhängig machen darf, wenn er im Besitz einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" ist. Die Richtlinie über die Freizügigkeit der Unionsbürger lässt keine Maßnahmen zu, die Familienangehörige in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks daran hindern, ohne Visum in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen.
Herr Sean Ambrose McCarthy besitzt sowohl die britische als auch die irische Staatsangehörigkeit. Er ist mit der kolumbianischen Staatsangehörigen Helena Patricia McCarthy Rodriguez verheiratet, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. Seit 2010 wohnt die Familie in Spanien, wo sie ein Haus besitzt. Die Eheleute reisen regelmäßig in das Vereinigte Königreich, wo sie ebenfalls ein Haus besitzen. Frau McCarthy Rodriguez ist im Besitz einer von den spanischen Behörden ausgestellten „Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers“. Nach den britischen Einwanderungsvorschriften müssen auch Inhaber einer solchen Karte eine sechs Monate gültige Einreiseerlaubnis („EEA family permit“) beantragen, um in das Vereinigte Königreich einreisen zu können. Um das EEA family permit verlängern zu lassen, muss sich sein Inhaber persönlich in eine diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs im Ausland begeben und ein Formular ausfüllen, das Fragen zu seinen Existenzmitteln und seiner beruflichen Situation enthält.
Nationales Gericht erbittet Vorabentscheidung des EuGH zur Frag der Notwendigkeit eines Visums trotz Besitz einer Aufenthaltskarte
Da die Familie McCarthy durch diese nationalen Bestimmungen ihr Recht auf Freizügigkeit verletzt sieht, erhob sie 2012 Klage vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), des Vereinigten Königreichs. Dieses Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob Drittstaatsangehörige im Hinblick auf die Richtlinie 2004/38* und das Protokoll Nr. 20 generell verpflichtet werden können, sich für die Einreise in das britische Hoheitsgebiet ein Visum zu beschaffen, obwohl sie bereits im Besitz einer Aufenthaltskarte sind.
Familienangehöriger eines Unionsbürgers unterliegt nicht der Visumspflicht
Der Gerichtshof bestätigt, dass die Richtlinie 2004/38 auf die Situation der Familie McCarthy anwendbar ist. Sie findet auf jeden Unionsbürger Anwendung, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat, sowie auf seine Familienangehörigen. Aus der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nicht, dass das Recht auf Einreise der Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, und ihre in Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Entbindung von der Visumspflicht auf andere Mitgliedstaaten als den Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers beschränkt wären. Daher unterliegt ein in der Situation von Frau McCarthy Rodriguez befindlicher Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet des Herkunftsmitgliedstaats des Unionsbürgers nicht der Visumspflicht oder einer entsprechenden Verpflichtung.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob und unter welchen Voraussetzungen es die Richtlinie 2004/38 einem Mitgliedstaat gestattet, zur Bekämpfung eines allgemeinen Risikos des Rechtsmissbrauchs oder systemischen Betrugs die Einreise von der vorherigen Ausstellung einer Einreiseerlaubnis abhängig zu machen.
Nationale Behörden sind zur Anerkennung einer Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise verpflichtet
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedstaaten nur nach individueller Prüfung jedes Einzelfalls auf der Grundlage von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlassen dürfen, mit denen ein durch diese Richtlinie verliehenes Recht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden soll. Daher sind die nationalen Behörden verpflichtet, eine nach den Bestimmungen der Richtlinie von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen, es sei denn, aufgrund konkreter Anhaltspunkte im jeweiligen Einzelfall, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder Betrugs zulassen, bestehen Zweifel an der Echtheit dieser Karte und der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben.
Nationale Regelung setzt auch für Angehörige eines Unionsbürgers Beschaffung einer Einreiseerlaubnis voraus
Nach der fraglichen Regelung setzt die Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs selbst in Fällen, in denen die nationalen Behörden nicht der Auffassung sind, dass der Familienangehörige des Unionsbürgers in einen Rechtsmissbrauch oder Betrug involviert sein könnte, die vorherige Beschaffung einer Einreiseerlaubnis voraus. Daher werden Familienangehörige, die im Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte sind, durch diese Regelung absolut und automatisch daran gehindert, ohne Visum in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einzureisen, obwohl ihnen dieses Recht auf Einreise durch die Richtlinie verliehen wird.
Nationale Maßnahmen in keinem Fall zu rechtfertigen
Der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Drittstaatsangehörigen begangen werden, kann mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der Richtlinie 2004/38 den Erlass einer Maßnahme, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens des Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen. Solche Maßnahmen würden nämlich, wie im vorliegenden Fall, implizieren, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch die Richtlinie 2004/38 ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern, obwohl sie die in dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllen. Ferner würden solche Maßnahmen durch ihren Automatismus in den Wesenskern des elementaren und individuellen Rechts der Unionsbürger eingreifen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
Angehörigen von Unionsbürgern dürfen keine Voraussetzungen für Einreise auferlegt werden
Schließlich stellt der Gerichtshof zum Protokoll Nr. 20 fest, dass sich die Überprüfung an den Grenzen, die das Vereinigte Königreich nach diesem Protokoll durchführen darf, darauf erstrecken kann, ob die fraglichen Dokumente echt und die darin enthaltenen Angaben richtig sind, sowie auf konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder eines Betrugs zulassen. Es ist hingegen weder gestattet, die Voraussetzungen für die Einreise von Personen, die nach dem Unionsrecht über ein Recht auf Einreise verfügen, festzulegen, noch dürfen ihnen zusätzliche oder andere als die im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen für die Einreise auferlegt werden.
Erläuterungen
* Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 22.12.2014
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online
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