18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil24.09.2013

Türkische Staats­an­ge­hörige benötigen zur Inanspruchnahme von Dienst­leis­tungen in einem EU-Mitgliedstaat ein Visum zur EinreisePassive Dienstl­eistungs­freiheit von Still­hal­te­klausel des Zusatz­pro­tokolls zum Assoziierungs­abkommen nicht erfasst

Türkische Staats­an­ge­hörige sind nicht berechtigt, ohne Visum in das Gebiet eines Mitgliedstaats der EU einzureisen, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Das Zusatzprotokoll zum Assoziierungs­abkommen EWG-Türkei hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, nach seinem Inkrafttreten eine Visumpflicht in Bezug auf die Inanspruchnahme von Dienst­leis­tungen einzuführen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im Jahr 1963 schlossen die Türkei und die Europäische Wirtschafts­ge­mein­schaft sowie deren Mitgliedstaaten ein Assozi­ie­rungs­ab­kommen*, das zum Ziel hat, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschafts­be­zie­hungen zwischen den Vertrags­parteien zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern. Es sieht u. a. vor, dass sich die Vertrags­parteien von den Vorschriften des EWG-Vertrags über den freien Dienst­leis­tungs­verkehr zwischen den Mitgliedstaaten leiten lassen, um untereinander alle Beschränkungen dieses Grundsatzes aufzuheben.

Das 1970 unterzeichnete Zusatz­pro­to­koll** zu diesem Abkommen enthält eine Still­hal­te­klausel, die es den Vertrags­parteien untersagt, nach Inkrafttreten des Protokolls neue Beschränkungen des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs einzuführen.

Klägerin hält Verweigerung des Visums für den Besuch ihres in Deutschland wohnenden Stiefvaters für unzulässig

Frau Demirkan, eine türkische Staats­an­ge­hörige, der die deutschen Behörden ein Visum für den Besuch ihres in Deutschland wohnenden Stiefvaters verweigerten, beruft sich vor den deutschen Gerichten auf die Still­hal­te­klausel. Ihrer Ansicht nach verbietet diese Klausel die Einführung neuer Beschränkungen wie einer Visumpflicht nicht nur gegenüber denjenigen, die eine Dienstleistung erbringen wollen („aktive“ Dienst­leis­tungs­freiheit)***, sondern auch gegenüber denjenigen, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen („passive“ Dienst­leis­tungs­freiheit). Frau Demirkan macht geltend, dass sie als potenzielle Empfängerin von Dienst­leis­tungen anzusehen sei, da ein Besuch bei einem Familien­an­ge­hörigen in Deutschland die Möglichkeit impliziere, dort Dienst­leis­tungen in Anspruch zu nehmen. Überdies sei nach dem bei Inkrafttreten des Zusatz­pro­tokolls für Deutschland im Jahr 1973 geltenden deutschen Recht die Einreise türkischer Staats­an­ge­höriger zu einem Besuchs­auf­enthalt nicht visumpflichtig gewesen. Die Still­hal­te­klausel bewirke daher, dass die von Deutschland 1980 für türkische Staats­an­ge­hörige eingeführte allgemeine Visum­pf­licht**** für sie nicht gelte.

Das in zweiter Instanz angerufene Oberver­wal­tungs­gericht Berlin-Brandenburg ersucht den Gerichtshof um Aufschluss über die Tragweite der Still­hal­te­klausel.

Unionsbürger, die sich zur Inanspruchnahme von Dienst­leis­tungen in anderen Mitgliedstaat begeben, genießen Schutz passiver Dienst­leis­tungs­freiheit

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff "freier Dienst­leis­tungs­verkehr" in der Still­hal­te­klausel des Zusatz­pro­tokolls nicht die passive Dienstleistungsfreiheit erfasst, d. h. die Freiheit türkischer Staats­an­ge­höriger, sich als Dienst­leis­tungs­emp­fänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der den Angehörigen der Mitgliedstaaten – und damit den Unionsbürgern – durch die Unionsverträge verbürgte freie Dienst­leis­tungs­verkehr nicht nur die aktive Dienst­leis­tungs­freiheit, sondern, wie er in seinem Urteil Luisi und Carbone von 1984 anerkannt hat*****, als notwendige Ergänzung auch die passive Dienst­leis­tungs­freiheit umfasst. Daher genießen Unionsbürger, die sich, wie etwa Touristen oder Patienten, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort Dienst­leis­tungen in Empfang zu nehmen oder die Möglichkeit dazu zu haben, den Schutz der passiven Dienst­leis­tungs­freiheit. Dieser Schutz beruht auf dem Ziel, einen als Raum ohne Binnengrenzen konzipierten Binnenmarkt zu schaffen, indem alle der Schaffung eines solchen Marktes entge­gen­ste­henden Hemmnisse abgebaut werden.

Erstreckung des Begriffs des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs lässt sich nicht auf Still­hal­te­klausel des Zusatz­pro­tokolls übertragen

Wegen der grundlegenden Unterschiede, die zwischen den Unionsverträgen einerseits und dem Assozi­ie­rungs­ab­kommen und seinem Zusatzprotokoll andererseits hinsichtlich ihres Zwecks wie auch ihres Kontexts bestehen, lässt sich die vom Gerichtshof im Jahr 1984 für die Unionsverträge vorgenommene Erstreckung des Begriffs des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs auf die passive Dienst­leis­tungs­freiheit aber nicht auf die Still­hal­te­klausel des Zusatz­pro­tokolls übertragen.

Assozi­ie­rungs­ab­kommen und Zusatzprotokoll soll im Wesentlichen wirtschaftliche Entwicklung der Türkei fördern

Im Unterschied zu den Unionsverträgen verfolgt die Assoziation EWG-Türkei nämlich einen ausschließlich wirtschaft­lichen Zweck, da das Assozi­ie­rungs­ab­kommen und sein Zusatzprotokoll im Wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei fördern sollen. Die Entwicklung der wirtschaft­lichen Freiheiten zur Ermöglichung einer generellen Freizügigkeit, die mit der nach den Unionsverträgen für die Unionsbürger geltenden vergleichbar wäre, ist nicht Gegenstand des Assozi­ie­rungs­ab­kommens. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Assoziationsrat, der gemäß dem Zusatzprotokoll Zeitfolge und Einzelheiten der schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs festsetzen soll, bisher keine Maßnahme ergriffen hat, die dessen Verwirklichung substanziell vorantreiben würde. Überdies gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vertrags­parteien des Assozi­ie­rungs­ab­kommens und des Zusatz­pro­tokolls bei deren Unterzeichnung, d. h. 21 bzw. 14 Jahre vor dem Urteil Luisi und Carbone, davon ausgingen, dass der freie Dienst­leis­tungs­verkehr auch die passive Dienst­leis­tungs­freiheit umfasst.

Erläuterungen
* Unterzeichnet am 12. September 1963 in Ankara und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt.

** Unterzeichnet am 23. November 1970 in Brüssel und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt.

*** Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Still­hal­te­klausel es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatz­pro­tokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staats­an­ge­höriger zu verlangen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Dienst­leis­tungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zuvor nicht verlangt wurde (Urteil des Gerichtshofs vom 19. Februar 2009, Soysal und Savatli, C-228/06).

**** Seit 2001 sieht auch das Unionsrecht eine Visumpflicht für türkische Staats­an­ge­hörige vor, vgl. Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staats­an­ge­hörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staats­an­ge­hörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 81, S. 1).

*****Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 1984, Luisi und Carbone (286/82 und 26/83).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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