21.11.2024
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Bundesverwaltungsgericht Urteil16.11.2010

BVerwG: Familiennachzug erfordert gesicherten Lebensunterhalt für KernfamilieEinkünfte für Sicherstellung des eigenen Bedarfs genügt nicht

Will ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen, muss grundsätzlich der Unter­halts­bedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein. Es reicht nicht aus, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinen Einkünften bei isolierter Betrachtung zwar seinen eigenen Bedarf sicherstellen könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf öffentliche Sozia­l­leis­tungen angewiesen ist. Dies hat das Bundes­ver­wal­tungs­gericht Leipzig entschieden.

Der Entscheidung lag der Fall eines 37-jährigen türkischen Staats­an­ge­hörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 Aufent­halts­gesetz (AufenthG) erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Nachdem der Kläger für sich, seine Ehefrau und seinen jüngsten Sohn ab September 2006 Leistungen nach dem Sozial­ge­setzbuch II (SGB II) bezogen hatte, versagte das beklagte Land Berlin 2008 dem Kläger die beantragte Aufent­halt­s­er­laubnis. Das Verwal­tungs­gericht Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, das Oberver­wal­tungs­gericht Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufent­halt­s­er­laubnis verpflichtet. Es war der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebens­un­terhalts genüge, wenn der Unter­halts­bedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt sei. Das sei hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers reiche mittlerweile für seinen eigenen Bedarf aus, wenn auch nicht für den der Ehefrau und des minderjährigen Sohnes.

Familiennachzug setzt gedeckten Lebensunterhalt der Familie ohne Sozialleistung voraus

Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat das Urteil des Oberver­wal­tungs­ge­richts aufgehoben und entschieden, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in der Regel voraussetzt, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfs­ge­mein­schaft - hier: des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes - ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozia­l­leis­tungen bestritten werden kann. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr bezieht die Familie weiterhin Sozia­l­leis­tungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unter­halts­bedarf der Bedarfs­ge­mein­schaft ankommt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozia­l­leis­tungen verweist, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln sind (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dieser Verweis umfasst grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfs­ge­mein­schaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamt­be­trachtung der Familie ausgeht, bestätigt auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familien­an­ge­hörigen zum Haushalt­s­ein­kommen zu berücksichtigen sind (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienen daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.

Aufgrund Schutz von Ehe und Familie muss Regeler­tei­lungs­vor­aus­setzung noch geprüft werden

Da es sich bei der Sicherung des Lebens­un­terhalts um eine Regeler­tei­lungs­vor­aus­setzung handelt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibt allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unions­recht­lichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten. Hierbei ist neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozia­l­leis­tungen ist und in welchem Umfang der Nachziehende zum Famili­en­un­terhalt beiträgt. In diesem Zusammenhang hat der Senat ausgeführt, dass bei der Berechnung des Unter­halts­bedarfs im Anwen­dungs­bereich der Famili­en­zu­sam­men­füh­rungs­richtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen ist. Insoweit entsprach der Senat der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Bei der Werbungs­kos­ten­pau­schale (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) wird dem Gebot der individuellen Prüfung des tatsächlichen Bedarfs dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann. Da das Berufungsurteil zum Vorliegen eines Ausnahmefalles keine Feststellungen enthält, war das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das Oberver­wal­tungs­gericht zurück­zu­ver­weisen.

Entscheidung 2. Fall:

In einem weiteren Verfahren (BVerwG 1 C 21.09) hat der 1. Revisionssenat entschieden, dass es auch für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, also eines unbefristeten nationalen Aufent­halt­s­titels, erforderlich ist, dass der Lebensunterhalt der familiären Bedarfs­ge­mein­schaft, in der der Ausländer lebt, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozia­l­leis­tungen bestritten werden kann. Hier sind der Freibetrag für Erwerbstätige und die Werbungs­kos­ten­pau­schale weiterhin zu Lasten des Ausländers anzusetzen.

Erläuterungen

§ 9 Abs. 2 SGB II lautet: "Bei Personen, die in einer Bedarfs­ge­mein­schaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfs­ge­mein­schaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebens­un­terhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfs­ge­mein­schaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfs­ge­mein­schaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfs­ge­mein­schaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig."

Quelle: Bundesverwaltungsgericht/ ra-online

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