24.11.2024
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Dokument-Nr. 10071

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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.06.2010

BVerfG zur Anwendung und Auslegung des Tatbestandes der Untreue - Untreu­e­tat­bestand verfas­sungsgemäßVerfas­sungs­be­schwerden gegen Verurteilung wegen Untreue teilweise erfolgreich

Unter dem Gesichtspunkt des Bestimmt­heits­gebotes des Art. 103 Abs. 2 GG musste das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in drei miteinander verbundenen Verfahren über die Anwendung und Auslegen des Tatbestandes der Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) entscheiden. Die im juristischen Schrifttum zum Teil bezweifelte Verfas­sungs­mä­ßigkeit des gesetzlichen Tatbestandes hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hierbei bejaht.

Der Tatbestand der Untreue - § 266 Abs. 1 StGB - in der heute gültigen Fassung lautet:

Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treue­ver­hält­nisses obliegende Pflicht, fremde Vermö­gen­s­in­teressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermö­gen­s­in­teressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Den Versuch der Untreue hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt.

Sachverhalt

Die Beschwer­de­führer in den vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschiedenen Verfahren sind wegen Untreue zu Bewäh­rungs­strafen verurteilt worden. Der Bundes­ge­richtshof hat ihre Verurteilung zumindest im Schuldspruch bestätigt. Der Beschwer­de­führer im ersten Verfahren verwaltete nach den straf­ge­richt­lichen Feststellungen als Bereichs­vorstand der Fa. Siemens AG Gelder auf "schwarzen Kassen". Somit entzog er diese dem Zugriff der zuständigen Unter­neh­mens­organe und verwendete sie später zu Beste­chungs­zwecken. Der Beschwer­de­führer im zweiten Verfahren war Vorstand einer Betrie­bs­kran­kenkasse und schädigte deren Vermögen. Er bewilligte Angestellten der Krankenkasse in Überschreitung des ihm zustehenden Entschei­dungs­spielraums über mehrere Jahre hinweg zusätzlich zu deren Gehalt und der Vergütung geleisteter Überstanden Prämien in erheblicher Höhe. Die Beschwer­de­führer im dritten Verfahren waren Vorstands­mit­glieder der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG. Sie sollen unter Verletzung ihrer der Bank gegenüber bestehenden Informations- und Prüfungs­pflichten einen unzureichenden gesicherten Kredit für die Anschaffung und Modernisierung von Platten­bau­woh­nungen über knapp 20. Mio. DM bewilligt und ausgezahlt haben.

Beschluss und Urteil im dritten Fall aufgehoben und zurückgewiesen

Die gegen die Verurteilung gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden in den beiden erstgenannten Verfahren wurden vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht zurückgewiesen. Im dritten Fall wurde jedoch der Beschluss des Bundes­ge­richtshofs und das Urteil des Landgerichts Berlin wegen Verletzung des Rechts der Beschwer­de­führer aus Art. 103 Abs. 2 GG aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen.

Im Wesentlichen liegen der Entscheidung folgende Erwägungen zugrunde

Verfas­sungs­rechtliche Bedenken, die die Weite eines Straf­tat­be­standes bei isolierter Betrachtung auslösen müsste, können durch eine gefestigte höchst­rich­terliche Rechtsprechung entkräftet werden. Die Rechtsprechung ist daher gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwen­dungs­bereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzi­sie­rungs­angebot). Aufgrund des in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden strengen Geset­zes­vor­behalts ist die Kontrolldichte des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts bezüglich der Rechtsanwendung durch die Fachgerichte im Bereich des materiellen Strafrechts erhöht.

Untreu­e­tat­bestand mit Bestimmt­heitsgebot vereinbar

Der Untreu­e­tat­bestand ist mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG noch zu vereinbaren. Zwar hat das Regelungs­konzept des Gesetzgebers - im Interesse eines wirksamen und umfassenden Vermö­gens­schutzes - zu einer sehr weit gefassten und verhältnismäßig unscharfen Strafvorschrift geführt. § 266 Abs. 1 StGB lässt jedoch das zu schützende Rechtsgut ebenso klar erkennen wir die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber dieses mit Hilfe des Tatbestandes bewahren will. Der Untreu­e­tat­bestand lässt eine konkre­ti­sierende Auslegung zu, die die Rechtsprechung in langjähriger Praxis umgesetzt und die sich in ihrer tatbe­stands­be­gren­zenden Funktion grundsätzlich als tragfähig erwiesen hat.

Den danach an die Auslegung des § 266 Abs. 1 StGB zu stellenden Anforderungen genügen die angegriffenen Verurteilungen in den ersten beiden Fällen. Nicht jedoch die Verurteilung der Vorstände der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG.

Es fehlt an nachvoll­ziehbaren Vermö­gens­nachteil

Die Bewertung, dass die Beschwer­de­führer mit der Bewilligung des Kredits die ihnen als Vorstands­mit­glieder obliegende Pflicht verletzt haben, ist nicht zu beanstanden. Es fehlt jedoch an der von Verfassungs wegen erforderlichen wirtschaftlich nachvoll­ziehbaren Feststellung und Darlegung eines Vermö­gens­nachteils (Schadens).

Landgericht ist vom Zeitpunkt der Bewilligung und Auszahlung ausgegangen

Das Landgericht hat auf die Rechtsfigur des Gefähr­dungs­schadens zurückgegriffen. Es ist vom Eintritt eines Schadens bereits zum Zeitpunkt der Bewilligung und Auszahlung des Kredits ausgegangen, weil der durch Auszahlung des Kreditbetrags eingetretenen Vermö­gens­min­derung ein gleichwertiger Vermö­gens­zuwachs in Form des Rückzah­lungs­an­spruchs nicht gegen­über­ge­standen habe, soweit die Rückzahlung mangels ausreichend werthaltiger Sicherheiten nicht gewährleistet gewesen sei. Dies ist im Ausgangspunkt verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist mit der Rechtsfigur des Gefähr­dungs­schadens in erhöhtem Maße die Gefahr einer Überdehnung des Untreu­e­tat­be­standes durch Gleichsetzung von gegenwärtigem Schaden und zukünftiger Verlustgefahr verbunden; dies würde die Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine Strafbarkeit des Untreueversuchs unterlaufen und die Eigen­stän­digkeit des Nachteils­merkmals in Frage stellen. Dieser Gefahr kann jedoch begegnet werden, indem (auch) Gefähr­dungs­schäden von den Gerichten in wirtschaftlich nachvoll­ziehbarer Weise nach anerkannten Bewer­tungs­ver­fahren und -maßstäben festgestellt werden. Soweit komplexe wirtschaftliche Analysen vorzunehmen sind, wird die Hinzuziehung eines Sachver­ständigen erforderlich sein.

Gerichte verletzen Bestimmt­heitsgebot

Die Entscheidungen des Landgerichts und des Bundes­ge­richtshofs verletzen das Bestimmt­heitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, weil sie einen Vermögensschaden angenommen haben, obwohl keine den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen entsprechende, wirtschaftlich nachvoll­ziehbare Feststellungen zu dem Nachteil getroffen wurden, der durch die pflichtwidrige Kreditvergabe des Beschwer­de­führer verursacht worden sein könnte. Dass nach der Bewertung des Bundes­ge­richtshofs die als Vorstands­mit­glieder verant­wort­lichen Beschwer­de­führer ein allzu weites Risiko eingegangen sind, indem sie die Kreditgewährung für das Gesamtkonzept pflichtwidrig unter Vernach­läs­sigung anerkannter deutlicher Risiken und Negierung vielfältiger Warnungen fortsetzten, ersetzt nicht die Feststellung eines konkreten Schadens.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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