23.11.2024
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Dokument-Nr. 16966

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Bundesverfassungsgericht Beschluss17.09.2013

BVerfG: Jahrelange Überwachung des Linke-Politikers Bodo Ramelow verfas­sungs­widrigAbgeordneten­beobachtung durch den Verfas­sungs­schutz unterliegt strengen Verhält­nis­mä­ßigkeits­anforderungen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat sich zu den Voraussetzungen für die Beobachtung von Abgeordneten durch Behörden des Verfas­sungs­schutzes geäußert und entschieden, dass die Beobachtung demnach einen Eingriff in das freie Mandat darstellt. Er unterliegt strengen Anforderungen an die Verhält­nis­mä­ßigkeit. Die langjährige Beobachtung des Beschwer­de­führers Bodo Ramelow, eines ehemaligen Bundestags- und jetzigen Landtags­abgeordneten für die Partei DIE LINKE, genügt diesen Anforderungen an die Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht.

Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwer­de­führer war ab Oktober 1999 Mitglied des Thüringer Landtags. Von Oktober 2005 bis September 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und der Fraktion DIE LINKE sowie deren stell­ver­tre­tender Frakti­o­ns­vor­sit­zender. Seit Herbst 2009 ist er Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag.

Beobachtung des Abgeordneten wird mit Mitgliedschaft und Funktion in der Partei DIE LINKE begründet

Das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz beobachtet einzelne Mitglieder des Deutschen Bundestags, die der Fraktion DIE LINKE angehören. Seit 1986 führt es über den Beschwer­de­führer eine Personenakte, in der Informationen gesammelt sind, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Die gesammelten Informationen betreffen die Tätigkeit des Beschwer­de­führers in der und für die Partei sowie ab 1999 auch seine Abgeord­ne­ten­tä­tigkeit, jedoch ohne sein Abstim­mungs­ver­halten und seine Äußerungen im Parlament sowie in den Ausschüssen. Das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz wertet jedoch parla­men­ta­rische Drucksachen aus und gewinnt auch Informationen über sonstige politische Aktivitäten des Beschwer­de­führers. Nach den Feststellungen der Fachgerichte ist der Beschwer­de­führer individuell nicht verdächtig, Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verfolgen. Seine Beobachtung wird ausschließlich mit seiner Mitgliedschaft und seinen Funktionen in der Partei DIE LINKE begründet.

Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren gegen ein die Beobachtung billigendes Urteil

Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde greift der Beschwer­de­führer ein - die Beobachtung billigendes - Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 21. Juli 2010 an.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht hebt Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts auf

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass das angegriffene Urteil das freie Mandat des Beschwer­de­führers verletzt und somit aufzuheben ist. Die Sache wird an das Bundes­ver­wal­tungs­gericht zurückverwiesen.

Gewährleistung der freien Willensbildung bei einem freien Mandat

Das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die freie Willensbildung des Abgeordneten und damit auch eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommu­ni­ka­ti­o­ns­be­ziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Das Gebot freier Willensbildung steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der parla­men­ta­rischen Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. In der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes vollziehen sich die Willensbildung des Volkes und die Willensbildung in den Staatsorganen in einer konti­nu­ier­lichen und vielfältigen Wechselwirkung. Dieser kommunikative Prozess, bei dem der Abgeordnete nicht nur Informationen weitergibt, sondern auch Informationen empfängt, ist vom Schutz des freien Mandats umfasst.

Gewährleistung der Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung

Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet in diesem Zusammenhang auch die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle und steht insoweit in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Die einzelnen Abgeordneten sind zwar nicht von vornherein jeder exekutiven Kontrolle entzogen. Diese ist jedoch in erster Linie eine eigene Angelegenheit des Deutschen Bundestages, der dabei im Rahmen der Parla­ment­s­au­tonomie handelt. Die Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle gilt - vermittelt über Art. 28 Abs. 1 GG - auch für die Mitglieder der Volks­ver­tre­tungen in den Ländern. Sie kann im vorliegenden Fall mit der Verfas­sungs­be­schwerde geltend gemacht werden, weil der Beschwer­de­führer das Urteil eines Bundesgerichts angreift.

Eingriff in das freie Mandat unterliegt strengen Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen

In der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfas­sungs­schutzes und der damit verbundenen Sammlung und Speicherung von Daten liegt ein Eingriff in das freie Mandat. Dieser Eingriff kann im Einzelfall gerechtfertigt sein, unterliegt jedoch strengen Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen.

Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei Missbrauch des Mandats

Ein Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft.

Bloße Partei­mit­glied­schaft rechtfertigt nur vorübergehende Beobachtung

Die Partei­mit­glied­schaft des Abgeordneten kann ein Aspekt der gebotenen Gesamt­be­ur­teilung sein. Artikel 21 GG weist den Parteien eine wesentliche Rolle für die politische Willensbildung des Volkes in der demokratischen Verfas­sungs­ordnung des Grundgesetzes zu. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass ein partei­po­li­tisches Engagement, welches seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Für sich genommen vermag die bloße Partei­mit­glied­schaft daher nur eine vorübergehende Beobachtung zu rechtfertigen, die der Klärung der Funktionen des Abgeordneten, seiner Bedeutung und Stellung in der Partei, seines Verhältnisses zu verfas­sungs­feind­lichen Strömungen sowie der Beurteilung von deren Relevanz innerhalb der Partei und für das Wirken des Abgeordneten dient.

Beschränkung des freien Mandats bedarf einer gesetzlichen Grundlage

Eine Beschränkung des freien Mandats durch die Beobachtung von Abgeordneten bedarf darüber hinaus einer gesetzlichen Grundlage, die den rechts­s­taat­lichen Anforderungen der Bestimmtheit und Klarheit genügt.

Eingriff in freie Mandatsausübung nicht gerechtfertigt

Das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 21. Juli 2010 trägt diesen Maßstäben nicht hinreichend Rechnung. In der Beobachtung des Beschwer­de­führers durch das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz liegt nach den vorstehenden Maßstäben ein Eingriff in dessen freie Mandatsausübung, der nicht gerechtfertigt ist.

Einsatz von Methoden der heimlichen Infor­ma­ti­o­ns­be­schaffung nicht nachgewiesen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht geht dabei von der Feststellung der Fachgerichte aus, dass die Infor­ma­ti­o­ns­er­hebung ohne den Einsatz von Methoden der heimlichen Infor­ma­ti­o­ns­be­schaffung erfolgt. Soweit der Beschwer­de­führer rügt, der Verfas­sungs­schutz wende auch Methoden der heimlichen Infor­ma­ti­o­ns­be­schaffung an, hat er verfas­sungs­rechtlich relevante Verstöße der Fachgerichte bei der gegenteiligen Feststellung nicht aufgezeigt.

Beobachtung muss verhältnismäßig sein

Die maßgeblichen Normen im Bundes­ver­fas­sungs­schutz­gesetz stellen eine den Anforderungen des Geset­zes­vor­behalts genügende, hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage dar. Die wesentliche Entscheidung, ob Mitglieder des Deutschen Bundestages der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfas­sungs­schutz unterzogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber selbst getroffen und sie bejaht. Der besonderen Schutz­wür­digkeit von Abgeordneten hat er ausreichend Rechnung getragen, indem § 8 Abs. 5 des Bundes­ver­fas­sungs­schutz­ge­setzes die einfach­ge­setzliche Anordnung enthält, dass die Beobachtung verhältnismäßig sein muss.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellt schweren Eingriff in das freie Mandat fest

Die langjährige Beobachtung des Beschwer­de­führers genügt jedoch den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht. Bei einer Gesamtabwägung aller Umstände stehen die vom Bundes­ver­wal­tungs­gericht angenommenen geringfügigen zusätzlichen Erkenntnisse für die Ermittlung eines umfassenden Bildes über die Partei außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwer­de­führers.

Verfas­sungs­feindliche Bestrebungen sowie Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht nachzuweisen

Die Fachgerichte haben ausdrücklich festgestellt, dass der Beschwer­de­führer individuell nicht verdächtig ist, verfas­sungs­feindliche Bestrebungen zu verfolgen. Tatsächliche Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht haben die Fachgerichte lediglich in Bezug auf einzelne Unter­glie­de­rungen der Partei DIE LINKE festgestellt, bei denen der Beschwer­de­führer weder zu den Angehörigen noch zu den Unterstützern zählt. Von dem Beschwer­de­führer selbst geht folglich auch unter Einbeziehung seines Verhältnisses zu der Partei und den dort vorhandenen Strömungen kein relevanter Beitrag für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus. Im Übrigen könnte das Verhalten des Beschwer­de­führers - insbesondere, ob er die radikalen Kräfte aktiv bekämpft - seine Beobachtung allenfalls dann rechtfertigen, wenn diesen Kräften bereits ein bestimmender Einfluss innerhalb der Partei zukäme. Dafür ist im fachge­richt­lichen Verfahren nichts festgestellt.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht hält objektive Eignung verfas­sungs­feindliche Bestrebung zu unterstützen für nicht haltbar

Verfas­sungs­rechtlich nicht haltbar ist nach den obigen Maßstäben die Annahme des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts, die Tätigkeit des Beschwer­de­führers sei dennoch objektiv geeignet, die verfas­sungs­feind­lichen Bestrebungen zu unterstützen; gefährlich für die freiheitliche demokratische Grundordnung könnten auch Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfas­sungs­feindliche Bestrebungen förderten, ohne dies zu erkennen oder als hinreichenden Grund anzusehen, einen aus anderen Beweggründen unterstützten Perso­nen­zu­sam­menhang zu verlassen. Das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts verkennt insoweit, dass ein partei­po­li­tisches Engagement, das seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es in einer Partei stattfindet, in der unter­schiedliche Kräfte und Strömungen miteinander um Einfluss ringen.

Eingesetzte Mittel des Bundesamts für Verfas­sungs­schutz unver­hät­nismäßig

Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht verkennt darüber hinaus, dass auch die eingesetzten Mittel des Bundesamtes für Verfas­sungs­schutz unver­hält­nismäßig sind, soweit das Verhalten des Beschwer­de­führers im von Art. 46 Abs. 1 GG besonders geschützten parla­men­ta­rischen Bereich betroffen ist. Hinsichtlich der vom Bundes­ver­wal­tungs­gericht festgestellten Sammlung und Auswertung parla­men­ta­rischer Drucksachen hat die insoweit erforderliche Abwägung nicht stattgefunden.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärt Anträge für unzulässig

Antragsteller in den Organ­streit­ver­fahren sind der Beschwer­de­führer sowie die Bundes­tags­fraktion DIE LINKE. Die Anträge sind unzulässig, weil sie nicht statthaft beziehungsweise die Antragsteller jeweils nicht antragsbefugt sind. Soweit die Antragsteller in späteren Schriftsätzen weitere oder geänderte Anträge gestellt haben, ist die sechsmonatige Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht gewahrt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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