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- JuS 2014, 284 (Michael Sachs)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2014, Seite: 284, Entscheidungsbesprechung von Michael Sachs
- ZD 2014, 596Zeitschrift für Datenschutz (ZD), Jahrgang: 2014, Seite: 596
- Staatsrecht
- Verfassungsrecht
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- Beobachtung durch den Verfassungsschutz
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- Die Linke (Partei)
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- Gebot freier Willensbildung
- Thüringer Landtag
- Verhältnismäßigkeit
Bundesverfassungsgericht Beschluss17.09.2013
BVerfG: Jahrelange Überwachung des Linke-Politikers Bodo Ramelow verfassungswidrigAbgeordnetenbeobachtung durch den Verfassungsschutz unterliegt strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen
Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu den Voraussetzungen für die Beobachtung von Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes geäußert und entschieden, dass die Beobachtung demnach einen Eingriff in das freie Mandat darstellt. Er unterliegt strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Die langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers Bodo Ramelow, eines ehemaligen Bundestags- und jetzigen Landtagsabgeordneten für die Partei DIE LINKE, genügt diesen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht.
Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer war ab Oktober 1999 Mitglied des Thüringer Landtags. Von Oktober 2005 bis September 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und der Fraktion DIE LINKE sowie deren stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Seit Herbst 2009 ist er Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag.
Beobachtung des Abgeordneten wird mit Mitgliedschaft und Funktion in der Partei DIE LINKE begründet
Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet einzelne Mitglieder des Deutschen Bundestags, die der Fraktion DIE LINKE angehören. Seit 1986 führt es über den Beschwerdeführer eine Personenakte, in der Informationen gesammelt sind, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Die gesammelten Informationen betreffen die Tätigkeit des Beschwerdeführers in der und für die Partei sowie ab 1999 auch seine Abgeordnetentätigkeit, jedoch ohne sein Abstimmungsverhalten und seine Äußerungen im Parlament sowie in den Ausschüssen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wertet jedoch parlamentarische Drucksachen aus und gewinnt auch Informationen über sonstige politische Aktivitäten des Beschwerdeführers. Nach den Feststellungen der Fachgerichte ist der Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig, Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verfolgen. Seine Beobachtung wird ausschließlich mit seiner Mitgliedschaft und seinen Funktionen in der Partei DIE LINKE begründet.
Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen ein die Beobachtung billigendes Urteil
Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer ein - die Beobachtung billigendes - Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010 an.
Bundesverfassungsgericht hebt Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das angegriffene Urteil das freie Mandat des Beschwerdeführers verletzt und somit aufzuheben ist. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Gewährleistung der freien Willensbildung bei einem freien Mandat
Das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die freie Willensbildung des Abgeordneten und damit auch eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Das Gebot freier Willensbildung steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. In der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes vollziehen sich die Willensbildung des Volkes und die Willensbildung in den Staatsorganen in einer kontinuierlichen und vielfältigen Wechselwirkung. Dieser kommunikative Prozess, bei dem der Abgeordnete nicht nur Informationen weitergibt, sondern auch Informationen empfängt, ist vom Schutz des freien Mandats umfasst.
Gewährleistung der Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet in diesem Zusammenhang auch die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle und steht insoweit in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Die einzelnen Abgeordneten sind zwar nicht von vornherein jeder exekutiven Kontrolle entzogen. Diese ist jedoch in erster Linie eine eigene Angelegenheit des Deutschen Bundestages, der dabei im Rahmen der Parlamentsautonomie handelt. Die Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle gilt - vermittelt über Art. 28 Abs. 1 GG - auch für die Mitglieder der Volksvertretungen in den Ländern. Sie kann im vorliegenden Fall mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, weil der Beschwerdeführer das Urteil eines Bundesgerichts angreift.
Eingriff in das freie Mandat unterliegt strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen
In der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes und der damit verbundenen Sammlung und Speicherung von Daten liegt ein Eingriff in das freie Mandat. Dieser Eingriff kann im Einzelfall gerechtfertigt sein, unterliegt jedoch strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen.
Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei Missbrauch des Mandats
Ein Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft.
Bloße Parteimitgliedschaft rechtfertigt nur vorübergehende Beobachtung
Die Parteimitgliedschaft des Abgeordneten kann ein Aspekt der gebotenen Gesamtbeurteilung sein. Artikel 21 GG weist den Parteien eine wesentliche Rolle für die politische Willensbildung des Volkes in der demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass ein parteipolitisches Engagement, welches seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Für sich genommen vermag die bloße Parteimitgliedschaft daher nur eine vorübergehende Beobachtung zu rechtfertigen, die der Klärung der Funktionen des Abgeordneten, seiner Bedeutung und Stellung in der Partei, seines Verhältnisses zu verfassungsfeindlichen Strömungen sowie der Beurteilung von deren Relevanz innerhalb der Partei und für das Wirken des Abgeordneten dient.
Beschränkung des freien Mandats bedarf einer gesetzlichen Grundlage
Eine Beschränkung des freien Mandats durch die Beobachtung von Abgeordneten bedarf darüber hinaus einer gesetzlichen Grundlage, die den rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit und Klarheit genügt.
Eingriff in freie Mandatsausübung nicht gerechtfertigt
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010 trägt diesen Maßstäben nicht hinreichend Rechnung. In der Beobachtung des Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Verfassungsschutz liegt nach den vorstehenden Maßstäben ein Eingriff in dessen freie Mandatsausübung, der nicht gerechtfertigt ist.
Einsatz von Methoden der heimlichen Informationsbeschaffung nicht nachgewiesen
Das Bundesverfassungsgericht geht dabei von der Feststellung der Fachgerichte aus, dass die Informationserhebung ohne den Einsatz von Methoden der heimlichen Informationsbeschaffung erfolgt. Soweit der Beschwerdeführer rügt, der Verfassungsschutz wende auch Methoden der heimlichen Informationsbeschaffung an, hat er verfassungsrechtlich relevante Verstöße der Fachgerichte bei der gegenteiligen Feststellung nicht aufgezeigt.
Beobachtung muss verhältnismäßig sein
Die maßgeblichen Normen im Bundesverfassungsschutzgesetz stellen eine den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügende, hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage dar. Die wesentliche Entscheidung, ob Mitglieder des Deutschen Bundestages der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz unterzogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber selbst getroffen und sie bejaht. Der besonderen Schutzwürdigkeit von Abgeordneten hat er ausreichend Rechnung getragen, indem § 8 Abs. 5 des Bundesverfassungsschutzgesetzes die einfachgesetzliche Anordnung enthält, dass die Beobachtung verhältnismäßig sein muss.
Bundesverfassungsgericht stellt schweren Eingriff in das freie Mandat fest
Die langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers genügt jedoch den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht. Bei einer Gesamtabwägung aller Umstände stehen die vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen geringfügigen zusätzlichen Erkenntnisse für die Ermittlung eines umfassenden Bildes über die Partei außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwerdeführers.
Verfassungsfeindliche Bestrebungen sowie Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht nachzuweisen
Die Fachgerichte haben ausdrücklich festgestellt, dass der Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig ist, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen. Tatsächliche Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht haben die Fachgerichte lediglich in Bezug auf einzelne Untergliederungen der Partei DIE LINKE festgestellt, bei denen der Beschwerdeführer weder zu den Angehörigen noch zu den Unterstützern zählt. Von dem Beschwerdeführer selbst geht folglich auch unter Einbeziehung seines Verhältnisses zu der Partei und den dort vorhandenen Strömungen kein relevanter Beitrag für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus. Im Übrigen könnte das Verhalten des Beschwerdeführers - insbesondere, ob er die radikalen Kräfte aktiv bekämpft - seine Beobachtung allenfalls dann rechtfertigen, wenn diesen Kräften bereits ein bestimmender Einfluss innerhalb der Partei zukäme. Dafür ist im fachgerichtlichen Verfahren nichts festgestellt.
Bundesverfassungsgericht hält objektive Eignung verfassungsfeindliche Bestrebung zu unterstützen für nicht haltbar
Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist nach den obigen Maßstäben die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die Tätigkeit des Beschwerdeführers sei dennoch objektiv geeignet, die verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu unterstützen; gefährlich für die freiheitliche demokratische Grundordnung könnten auch Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen förderten, ohne dies zu erkennen oder als hinreichenden Grund anzusehen, einen aus anderen Beweggründen unterstützten Personenzusammenhang zu verlassen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verkennt insoweit, dass ein parteipolitisches Engagement, das seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es in einer Partei stattfindet, in der unterschiedliche Kräfte und Strömungen miteinander um Einfluss ringen.
Eingesetzte Mittel des Bundesamts für Verfassungsschutz unverhätnismäßig
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt darüber hinaus, dass auch die eingesetzten Mittel des Bundesamtes für Verfassungsschutz unverhältnismäßig sind, soweit das Verhalten des Beschwerdeführers im von Art. 46 Abs. 1 GG besonders geschützten parlamentarischen Bereich betroffen ist. Hinsichtlich der vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Sammlung und Auswertung parlamentarischer Drucksachen hat die insoweit erforderliche Abwägung nicht stattgefunden.
Bundesverfassungsgericht erklärt Anträge für unzulässig
Antragsteller in den Organstreitverfahren sind der Beschwerdeführer sowie die Bundestagsfraktion DIE LINKE. Die Anträge sind unzulässig, weil sie nicht statthaft beziehungsweise die Antragsteller jeweils nicht antragsbefugt sind. Soweit die Antragsteller in späteren Schriftsätzen weitere oder geänderte Anträge gestellt haben, ist die sechsmonatige Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht gewahrt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 10.10.2013
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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