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Dokument-Nr. 32467

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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.12.2022

Erfolglose Verfassungs­beschwerde im sogenannten "Ku'damm-Raser-Fall"Angegriffene Entscheidungen stellen weder ein Verstoß gegen Bestimmt­heitsgebot noch einen Verstoß gegen Schuldprinzip dar

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen ein Strafurteil des Landgerichts Berlin vom März 2019 und ein Revisionsurteil des Bundes­ge­richtshofs vom Juni 2020 richtete. Der Beschwer­de­führer verursachte Anfang des Jahres 2016 bei einem Autorennen auf dem Berliner Kurfürstendamm einen Autounfall, bei dem ein Mensch zu Tode kam. Das Landgericht verurteilte ihn deswegen unter anderem wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, der Bundes­ge­richtshof verwarf seine Revision. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer nicht in seinen verfas­sungsmäßig garantierten Rechten.

Anfang des Jahres 2016 befuhr der Beschwer­de­führer mit seinem hochmo­to­ri­sierten Kraftfahrzeug den Berliner Kurfürstendamm. Dort vereinbarte er mit dem Mitangeklagten des Ausgangs­ver­fahrens, ein Wettrennen bis zur nächsten roten Ampel – ein in der Raser-Szene so genanntes Stechen – auszutragen. In der Folge entwickelte sich eine Wettfahrt durch die Berliner Innenstadt, bei der der Beschwer­de­führer mit stark überhöhter Geschwindigkeit mehrere rote Ampeln überfuhr und schließlich mit kontinuierlich voll durchgetretenem Gaspedal und einer Geschwindigkeit von wenigstens 160 km/h mit einem bei Grünlicht in eine Kreuzung einfahrenden Geländewagen zusammenstieß. Der Geländewagen drehte sich um die eigene Achse, flog etwa 25 Meter weit durch die Luft, schlug mit dem Dach auf der Fahrbahn auf, rutschte auf der Seite liegend die Fahrbahn entlang und blieb 72 Meter vom Kollisionsort entfernt liegen. Der Fahrer verstarb noch an der Unfallstelle. Mit angegriffenem Urteil verurteilte das Landgericht den Beschwer­de­führer unter anderem wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Kammer zeigte sich davon überzeugt, dass der Beschwer­de­führer mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe. Die dagegen eingelegte Revision des Beschwer­de­führers war – abgesehen von einer geringfügigen Änderung des Schuldspruchs – erfolglos. Der Bundes­ge­richtshof betonte in seiner Entscheidung, die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Frage einer bedingt vorsätzlichen Tötung sei revisi­ons­rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht habe die maßgeblichen vorsatz­re­le­vanten objektiven Tatumstände gesamtwürdigend betrachtet und sich mit den im konkreten Fall wesentlichen vorsatz­kri­tischen Umständen hinreichend ausein­an­der­gesetzt. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwer­de­führer gegen die Urteile des Landgerichts und des Bundes­ge­richtshofs. Er rügt eine Verletzung des Bestimmt­heits­gebots und des Schuld­grund­satzes durch die Auslegung des Vorsatzbegriffs und die Beweiswürdigung zum Tatvorsatz.

BVerfG: Kein Verstoß gegen Bestimmt­heitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG

Das BVerfG hat die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annah­me­vor­aus­set­zungen des § 93a Abs. 2 Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­gesetz (BVerfGG) nicht erfüllt sind. Einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG) zeigt der Beschwer­de­führer nicht auf. Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Vorschrift enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmt­heitsgebot sowie ein damit korre­spon­die­rendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot straf­be­grün­dender Analogie. Aus der Zielsetzung des Art. 103 Abs. 2 GG sind für die Gerichte Vorgaben für die Handhabung weit gefasster Tatbestände und Tatbe­stand­s­elemente zu entnehmen. Sie dürfen nicht durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwen­dungs­bereich einer Norm zu erhöhen. Andererseits ist die Rechtsprechung gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwen­dungs­bereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (sogenanntes Präzi­sie­rungsgebot). Gemessen an diesen Maßstäben haben die Fachgerichte mit der Annahme, der Beschwer­de­führer habe mit Tötungsvorsatz gehandelt, die Vorgaben des Bestimmt­heits­gebots nicht missachtet. Die Rüge, die Fachgerichte hätten eine dem Bestimmt­heitsgebot widersprechende Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit vorgenommen, dringt nicht durch. Unschädlich ist, dass das Strafgesetzbuch diese Begriffe ohne die Rechtsanwendung anleitende Definitionen verwendet. Art. 103 Abs. 2 GG schließt die Verwendung wertaus­fül­lungs­be­dürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht nicht aus, wenn sich mit Hilfe der üblichen Ausle­gungs­me­thoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berück­sich­tigung des Normzu­sam­menhangs oder aufgrund einer gefestigten höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung derartiger Begriffe gewinnen lässt. Jedenfalls bei Tötungsdelikten besteht für die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit eine solche gefestigte höchst­rich­terliche Rechtsprechung. Danach ist bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Bei der Annahme bedingten Vorsatzes müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement, in jedem Einzelfall anhand einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Die objektive Gefährlichkeit einer Handlung und der Grad der Wahrschein­lichkeit eines Erfolg­s­ein­tritts sind dabei maßgebliche, jedoch nicht alleinige Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Es ist weder dargetan noch aus sich heraus ersichtlich, dass diese den Vorsatzbegriff konkre­ti­sierende Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist. Zwar ist diese Rechtsprechung Kritik unterworfen, die im Ergebnis jedoch nur aufzeigt, dass – auch vor dem Hintergrund des Bestimmt­heits­gebots zulässige – Randunschärfen bei der Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bestehen. Damit umzugehen, obliegt der fachge­richt­lichen Rechtsprechung und der Straf­rechts­wis­sen­schaft und berührt die Gewähr­leis­tungen des Bestimmt­heits­gebots nicht. Es ist auch bei der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht Aufgabe des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, seine Auffassung von der zutreffenden oder überzeugenderen Auslegung des einfachen Rechts an die Stelle derjenigen der Fachgerichte zu setzen. Die angegriffenen Entscheidungen fügen sich in diese – dem aus Art. 103 Abs. 2 GG abgeleiteten Präzi­sie­rungsgebot entsprechende – ständige Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ein und lassen damit den behaupteten Verstoß gegen das Bestimmt­heitsgebot nicht erkennen. Ausdrücklich nehmen beide Entscheidungen diese ständige Rechtsprechung zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Prüfung. Dementsprechend haben sowohl das Landgericht als auch der Bundes­ge­richtshof nicht nur auf die objektive Gefährlichkeit der Handlung abgestellt, sondern auf die wesentlichen festgestellten Umstände des Einzelfalls, die Rückschlüsse auf das Wissens- und das Willenselement der inneren Tatseite zulassen. Der Beschwer­de­vortrag ist jedenfalls nicht geeignet, die Auslegung des Vorsatzbegriffs und die Subsumtion des festgestellten Sachverhalts darunter vor dem Hintergrund des Bestimmt­heits­gebots verfas­sungs­rechtlich in Zweifel zu ziehen. Im Ergebnis zielt er auf den Wunsch nach einer verfas­sungs­ge­richt­lichen Neubewertung des festgestellten Sachverhalts anhand des einfachen Rechts ab. Damit legt der Beschwer­de­führer den falschen Maßstab an, denn Art. 103 Abs. 2 GG berührt die Zuständigkeit der Fachgerichte für die Auslegung und Anwendung des Strafrechts innerhalb des Wortsinns der Straf­tat­be­stände nicht. Soweit der Beschwer­de­führer einen Verstoß gegen das Verschlei­fungs­verbot geltend macht, verkennt er, dass es nicht zu einer unzulässigen Verschleifung von Tatbe­stands­merkmalen führt, wenn einem tatsächlichen Umstand – wie hier der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung als wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch das Willenselement – Beweisbedeutung für unter­schiedliche Tatbe­stands­merkmale zugemessen wird.

Kein Verstoß gegen Schuldprinzip

Einen Verstoß gegen das Schuldprinzip hat der Beschwer­de­führer ebenfalls nicht dargetan. Das Strafrecht beruht auf dem im Verfassungsrang stehenden Schuldgrundsatz. Dieser den gesamten Bereich staatlichen Strafens beherrschende Grundsatz ist in der Garantie der Würde und Eigen­ver­ant­wort­lichkeit des Menschen sowie im Rechts­s­taats­prinzip verankert. Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechts­s­taat­lichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird. Gemessen an der Idee der Gerechtigkeit müssen auch Straftatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen, hat mithin die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein. Der Beschwer­de­führer zeigt eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung des Schuld­grund­satzes durch die Annahme eines Tötungs­vor­satzes nicht auf. Die Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit begegnet auch im Hinblick auf das Schuldprinzip keinen Bedenken, weil die individuelle Vorwerfbarkeit Grundlage für die Bestimmung des Schuldgehalts und des Strafrahmens ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs hat das Tatgericht bei der Prüfung des voluntativen Elements des bedingten Vorsatzes alle objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Persönlichkeit des Täters, dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung und dessen Motivlage, in Betracht zu ziehen. Da sich die angegriffenen Entscheidungen in diese ständige Rechtsprechung einfügen, ist ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz nicht erkennbar. Jedenfalls ist der Beschwer­de­vortrag nicht geeignet, die Urteile von Landgericht und Bundes­ge­richtshof im Hinblick auf das Schuldprinzip verfas­sungs­rechtlich in Zweifel zu ziehen. Im Wesentlichen zielt die Argumentation des Beschwer­de­führers darauf ab, das Landgericht habe – vom Bundes­ge­richtshof unbeanstandet – bei der Bejahung des Tötungs­vor­satzes und der Einordnung der Tat als Mord nicht die Umstände des Einzelfalls zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, sondern nach dem Leitbild eines rational Handelnden von der objektiven Gefährlichkeit der Wettfahrt auf den Tötungsvorsatz geschlossen. Das ist unzutreffend, da das Landgericht bei der Beweiswürdigung nicht nur auf die konkrete Gefährlichkeit der Fahrt abgestellt, sondern die Persönlichkeit des Beschwer­de­führers, seine Motivation für das maximale Beschleunigen nach der Kurvenausfahrt, seine grundsätzliche Einstellung zum Autofahren und seine Einschätzung des eigenen fahrerischen Könnens im Blick gehabt hat. Das Landgericht ist damit dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot gerecht geworden, den Schuldspruch auf Feststellungen zur individuellen Vorwerfbarkeit der dem Beschwer­de­führer zur Last gelegten Tat zu stützen. Soweit der Beschwer­de­vortrag im Ergebnis darauf abzielt, dass es nähergelegen hätte, keinen Tötungsvorsatz anzunehmen, setzt der Beschwer­de­führer damit lediglich seine eigene Würdigung der festgestellten Beweistatsachen an die Stelle der Würdigung des Schwurgerichts. Einen Verfas­sungs­verstoß kann er damit nicht tragfähig begründen. Die Rüge, die Einordnung der Tat als Mord führe zu einem Verstoß gegen das Gebot schuld­an­ge­messenen Strafens, dringt ebenfalls nicht durch. Der Beschwer­de­führer stellt auf fiktive Vergleichsfälle ab, um zu belegen, dass die lebenslange Freiheitsstrafe in sogenannten Raser-Fällen generell und speziell in seinem Fall nicht schuld­an­ge­messen sei. Die Argumentation beachtet den für die Bestimmung der Strafhöhe geltenden Maßstab der individuellen Schuld eines eigen­ver­ant­wortlich handelnden Täters nicht, denn die auf die individuelle Schuld eines Täters gestützte Strafe entzieht sich grundsätzlich eines Vergleichs mit gegen andere Personen oder in anderem Zusammenhang verhängten Strafen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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