18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 12888

Drucken
Urteil18.01.2012Bundesverfassungsgericht2 BvR 133/10
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 130, 76Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 130, Seite: 76
  • JZ 2012, 676Zeitschrift: JuristenZeitung (JZ), Jahrgang: 2012, Seite: 676
Für Details Fundstelle bitte Anklicken!
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil18.01.2012

Privatisierung des Maßre­gel­vollzugs: Regelung der Anordnung von Siche­rungs­maß­nahmen durch private Pflegekräfte nach dem hessischen Maßre­gel­voll­zugs­gesetz verfas­sungsgemäßSiche­rungs­maßnahme beruht auf verfas­sungs­kon­former Ermäch­ti­gungs­grundlage

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde eines Maßre­gel­voll­zugspa­tienten zurückgewiesen, der sich gegen die Anordnung und Durchführung einer besonderen Siche­rungs­maßnahme (Einschluss) durch Bedienstete einer privatisierten Maßre­gel­voll­zug­s­ein­richtung wandte.

Im zugrunde liegenden Fall wandte sich ein Maßre­gel­voll­zugspa­tienten mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Anordnung und zwangsweise Durchführung einer besonderen Siche­rungs­maßnahme (Einschluss) durch Bedienstete einer mit der Durchführung des Maßre­gel­vollzugs beliehenen Gesellschaft privaten Rechts. Die Verfas­sungs­be­schwerde wirft die Frage auf, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug der Einsatz von Bediensteten beliehener Privater zulässig ist.

Sachverhalt

Die Maßre­gel­voll­zug­s­ein­richtung, in der der Beschwer­de­führer untergebracht ist, wurde im Jahr 2007 auf der Grundlage des § 2 Sätze 3 bis 6 des hessischen Maßre­gel­voll­zugs­ge­setzes in eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt, deren Anteile teils beim Landes­wohl­fahrts­verband, teils bei einer weiteren GmbH liegen, die sich ihrerseits zu 100 % in der Hand des Landes­wohl­fahrts­ver­bandes befindet. Das Land Hessen hat der gGmbH durch Belei­hungs­vertrag die Aufgabe übertragen, die als Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordneten Unterbringungen gemäß § 61 Nr. 1 und 2 StGB im eigenen Namen für das Land Hessen zu vollziehen und ihr die dazu erforderlichen hoheitlichen Befugnisse, einschließlich der Befugnis zu den nach dem Hessischen Maßre­gel­voll­zugs­gesetz zulässigen Grund­recht­s­ein­griffen, verliehen.

Beschwer­de­führer rügt gewaltsamen Einschlusses als unrechtmäßig

Der Beschwer­de­führer wurde nach einem aggressiven Ausbruch von Mitarbeitern der gGmbH ohne vorherige Information der Klinikleitung gewaltsam in Einschluss genommen. Er beantragte vor den Fachgerichten erfolglos die Feststellung, dass die Maßnahme rechtswidrig gewesen sei, weil nur Beamte einen solchen Grund­recht­s­eingriff anordnen und durchführen dürften.

Beschwer­de­führer sieht in Eingriff Verstoß gegen das Demokra­tie­prinzip

Mit der Verfas­sungs­be­schwerde rügt er unter anderem, der Eingriff sei unter Verstoß gegen das Demokra­tie­prinzip sowie gegen Art. 33 Abs. 4 GG erfolgt, wonach die Ausübung hoheits­recht­licher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen - das heißt: Beamten -, zu übertragen ist.

Eingriff durch Bedienstete auch in privatisierten Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen mit Grundgesetz vereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Eingriffs­grundlage des § 5 Abs. 3 des hessischen Maßre­gel­voll­zugs­ge­setzes (HessMVollzG), der Bedienstete auch privatisierter Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen ermächtigt, bei Gefahr im Verzug vorläufig besondere Siche­rungs­maß­nahmen gegen einen im Maßregelvollzug Untergebrachten anzuordnen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die gegen den Beschwer­de­führer ergriffene Siche­rungs­maßnahme beruht auf einer verfas­sungs­kon­formen Ermäch­ti­gungs­grundlage.

Vorschrift des hessischen Maßre­gel­voll­zugs­gesetz verstößt nicht gegen Grundsatz des Funkti­o­ns­vor­behalts

Die Vorschrift des § 5 Abs. 3 HessMVollzG verstößt, indem sie auch Bediensteten privater Träger von Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen Vollzugs­aufgaben überträgt, nicht gegen den Grundsatz des Funkti­o­ns­vor­behalts (Art. 33 Abs. 4 GG), nach dem die Ausübung hoheits­recht­licher Befugnisse als ständige Aufgabe „in der Regel“ Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, d. h. Beamten, vorbehalten ist.

Vorläufige Anordnung besonderer Siche­rungs­maß­nahmen kann zulässige Ausnahme darstellen

Zwar gilt Art. 33 Abs. 4 GG auch für den Fall der Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private. Die in § 5 Abs. 3 HessMVollzG vorgesehene Befugnis zur vorläufigen Anordnung besonderer Siche­rungs­maß­nahmen erweist sich jedoch als zulässige Ausnahme vom Grundsatz des Funkti­o­ns­vor­behalts.

Ausnahmegrund darf nicht allein mit Kostengründen gerechtfertigt werden

Abweichungen von diesem Grundsatz müssen durch einen spezifischen, dem Sinn der Ausnah­memög­lichkeit entsprechenden Ausnahmegrund gerechtfertigt sein. Sie können nicht allein mit dem fiskalischen Gesichtspunkt begründet werden, dass eine Aufga­ben­wahr­nehmung durch Nichtbeamte den öffentlichen Haushalt entlasten würde. Jedoch kann berücksichtigt werden, ob eine Tätigkeit Besonderheiten aufweist, deretwegen Kosten und Siche­rungs­nutzen des Einsatzes von Berufsbeamten hier in einem anderen - deutlich ungünstigeren - als dem nach Art. 33 Abs. 4 GG im Regelfall voraus­zu­set­zenden Verhältnis stehen.

Gewählte Priva­ti­sie­rungs­lösung soll Qualität des Maßre­gel­vollzuges zugute kommen

Hieran gemessen kann ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 4 GG nicht festgestellt werden. Die gewählte Priva­ti­sie­rungs­lösung zielt auf die Erhaltung des organi­sa­to­rischen Verbundes der Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen und der sonstigen bei den jeweiligen Trägern zusam­men­ge­fassten psychiatrischen Einrichtungen. Die Erhaltung dieses Verbundes soll durch Synergieeffekte sowie verbesserte Perso­nal­ge­winnungs-, Ausbildungs- und Fortbil­dungs­mög­lich­keiten gerade der Qualität des Maßre­gel­vollzuges zugute kommen. Die Einschätzung, dass diese Vorzüge der Einbeziehung des Maßre­gel­vollzuges in den privatisierten Verbund nicht mit spürbaren Nachteilen im Hinblick auf die - besonders im Kernbereich hoheitlicher Staatsaufgaben unabdingbare - Sicherung qualifizierter und gesetzestreuer Aufga­ben­wahr­nehmung erkauft worden sind, ist angesichts vorhandener Erfahrungen mit der Inanspruchnahme der Ausnah­memög­lichkeit des Art. 33 Abs. 4 GG im Maßregelvollzug und angesichts der insti­tu­ti­o­nellen Ausgestaltung der erfolgten Privatisierung vom Einschät­zungs­spielraum des Gesetzgebers und der für die Festlegung der vertraglichen Rahmen­be­din­gungen verant­wort­lichen Regierung gedeckt.

Personelle und sachliche Ressourcen in privatisierten Trägern gleichermaßen gewährleistet, wie in formell öffentlichen Einrichtung

Zum einen ist die Privatisierung der hessischen Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen eine rein formelle. Die privaten Maßre­gel­voll­zugs­kliniken bleiben vollständig in der Hand eines öffentlichen Trägers, des Landes­wohl­fahrts­ver­bandes, und sind damit von erwer­bs­wirt­schaft­lichen Motiven und Zwängen freigestellt. Eine Auslieferung der Vollzugsaufgabe an Kräfte und Interessen des privat­wirt­schaft­lichen Wettbewerbs, die den gesetzlichen Vollzugszielen und der Wahrung der Rechte der Untergebrachten systemisch zuwiderlaufen können, findet nicht statt. Die Verpflichtung der öffentlichen Hand, die aufgabengemäße Ausstattung der Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen zu gewährleisten, wird in keiner Weise berührt. Die personellen und sachlichen Ressourcen, von denen die Möglichkeit eines rechts- und insbesondere grund­rechts­kon­formen Vollzuges wesentlich abhängt, sind den privatisierten Trägern der Maßre­gel­voll­zug­s­ein­rich­tungen in gleicher Weise gewährleistet, wie das bei einer formell öffentlichen Einrichtung der Fall wäre. Für den bei Einsatz von Nichtbeamten im Maßregelvollzug nicht auszu­schlie­ßenden Fall eines Streiks kann und muss die gebotene Vermeidung unver­hält­nis­mäßiger Beein­träch­ti­gungen Dritter durch Notdienste sichergestellt werden. Ferner sind die den Maßregelvollzug betreffenden Rechtspflichten der privaten Einrichtungen und ihrer Bediensteten durch weitreichende Steue­rungs­be­fugnisse des öffentlichen Aufgabenträgers in einer den Verhältnissen bei formell öffentlich-rechtlicher Organisation gleichwertigen Weise gesichert.

Gericht verneint Verstoß gegen verfas­sungs­rechtliche Anforderungen an demokratische Legitimation hoheitlichen Handelns

§ 5 Abs. 3 HessMVollzG verstößt nicht gegen die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die demokratische Legitimation hoheitlichen Handelns. Diese muss in personeller und sachlich-inhaltlicher Hinsicht ein insgesamt ausreichendes Niveau erlangen. Die Beleihung Privater darf nicht zu einer Flucht aus der staatlichen Verantwortung führen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass dieser Verantwortung unter den gesetzten Rahmen­be­din­gungen ausreichend Rechnung getragen ist, muss sich in der Realität bewahrheiten. Die staatliche Gewähr­leis­tungs­ver­ant­wortung für die ordnungsgemäße Aufga­be­n­er­füllung schließt daher, auch für das Parlament, eine entsprechende Beobach­tungs­pflicht ein. Dies erfordert unter anderem, dass die Möglichkeiten parla­men­ta­rischer Kontrolle der Aufga­ben­wahr­nehmung unbeein­trächtigt bleiben.

Leiter und Ärzte sind als Beschäftigte des Landes­wohl­fahrts­ver­bandes von öffentlicher Körperschaft bestellt und dadurch personell legitimiert

Das danach erforderliche Legiti­ma­ti­o­ns­niveau ist für die im hessischen Maßregelvollzug zu treffenden grund­recht­s­ein­grei­fenden Entscheidungen ausreichend gewährleistet. Der Leiter der jeweiligen Einrichtung und die weiteren Ärzte mit Leitungs­funktion sind dadurch personell legitimiert, dass sie als Beschäftigte des Landes­wohl­fahrts­ver­bandes von einer öffentlichen Körperschaft bestellt werden. Die Anstellung der Bediensteten der privaten Maßre­gel­voll­zug­s­ein­richtung steht dadurch in einem Legiti­ma­ti­o­ns­zu­sam­menhang, dass dem seinerseits personell legitimierten Leiter nach dem Belei­hungs­vertrag für die Stellen­be­setzung ein Vorschlagsrecht zusteht und die Geschäfts­führung der privaten Einrichtung an seine fachliche Beurteilung gebunden ist.

Sachlich-inhaltlich ist die Aufga­ben­wahr­nehmung durch die privatisierten Einrich­tungs­träger und die dort tätigen Personen durch deren Bindung an das Gesetz in Verbindung mit umfassenden Weisungs­be­fug­nissen der verant­wort­lichen öffentlichen Träger - bei gleichzeitigem Ausschluss von Weisungen der Geschäfts­führung des privaten Trägers im Zustän­dig­keits­bereich des Leiters der Einrichtung - legitimiert. Die vorgesehene Fachaufsicht ist nicht deshalb unzureichend, weil das Maßre­gel­voll­zugs­gesetz die für jede wirksame Aufsicht erforderlichen Infor­ma­ti­o­ns­ge­winnungs- und Durch­set­zungs­mittel nicht ausdrücklich regelt. Soweit der Beliehene durch ausdrückliche gesetzliche Regelung einer Aufsicht des verant­wort­lichen öffentlichen Trägers unterworfen ist und die Aufsichtsmittel nicht näher spezifiziert sind, kann eine solche gesetzliche Regelung verfas­sungs­konform nur dahin ausgelegt werden, dass die Aufsichts­be­fugnis alle zur effektiven Wahrnehmung der staatlichen Gewähr­leis­tungs­ver­ant­wortung erforderlichen Infor­ma­ti­o­ns­be­schaffungs- und Durch­set­zungs­be­fugnisse einschließt.

Aufga­ben­wahr­nehmung steht im notwendigen demokratischen Legiti­ma­ti­o­ns­zu­sam­menhang

Die Aufga­ben­wahr­nehmung der zuständigen Aufsichts­be­hörden, die zu effektiver Aufsicht über die beliehenen Privaten nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, steht ihrerseits in dem notwendigen demokratischen Legiti­ma­ti­o­ns­zu­sam­menhang. Dieser ist weder durch eine Geheimhaltung vertraglicher Ausgestaltungen der Aufga­ben­wahr­nehmung noch durch sonstige Beschränkungen der parla­men­ta­rischen Kontroll­mög­lich­keiten unterbrochen oder beeinträchtigt.

Bediensteten privater Maßre­gel­voll­zugs­klinik verbleibt allenfalls schmaler Ermes­sens­bereich

Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Bediensteten der privaten Maßre­gel­voll­zugs­klinik nach § 2 Satz 6 HessMVollzG grund­recht­s­ein­greifende Tätigkeiten nur insoweit ausführen dürfen, als diese durch Weisungen der Leitungs­personen so programmiert sind, dass keine Ermes­sens­spielräume verbleiben oder im Einzelfall verbleibende Ermes­sens­spielräume durch Angehörige der Leitungsebene ausgefüllt werden. Soweit § 5 Abs. 3 HessMVollzG Bedienstete der privaten Einrichtung zu vorläufigen Siche­rungs­maß­nahmen ermächtigt, verbleibt allenfalls ein schmaler Ermes­sens­bereich und unterliegt die Ausfüllung des Beurtei­lungs­spielraums durch die gesetzliche Pflicht der Bediensteten zur unverzüglichen Unterrichtung des Einrich­tungs­leiters einer präventiv wirksamen Rückkoppelung an dessen Weisungsgewalt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil12888

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI