18.10.2024
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Dokument-Nr. 11500

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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.03.2011

BVerfG: Medizinische Zwangs­be­handlung eines im Maßregelvollzug untergebrachten Straftäters unzulässigRheinland-pfälzische gesetzliche Regelung verfas­sungs­widrig

Die rheinland-pfälzische gesetzliche Regelung zur medizinischen Zwangs­be­handlung zur Erreichung des Vollzugsziels eines im Maßregelvollzug Untergebrachten ist verfas­sungs­widrig. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls befindet sich seit 1999 aufgrund einer Verurteilung wegen im Zustand der Schul­d­un­fä­higkeit begangener Gewalttaten im Maßregelvollzug. Die Maßre­gel­voll­zugs­klinik kündigte ihm schriftlich die Behandlung „mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen Ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, an. Den hiergegen gerichteten Antrag des Beschwer­de­führers auf gerichtliche Entscheidung wies das Landgericht mit der Maßgabe zurück, dass eine zwangsweise medikamentöse Therapie mittels atypischer Neuroleptika für einen Zeitraum von sechs Monaten zulässig sei. Die hiergegen gerichtete Rechts­be­schwerde zum Oberlan­des­gericht hatte keinen Erfolg.

Zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Maßre­gel­voll­zugs­ge­setzes

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Maßre­gel­voll­zugs­ge­setzes (MVollzG Rh.-Pf.) sind operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen des Untergebrachten nur mit seiner Einwilligung zulässig, wenn sie mit einem wesentlichen gesund­heit­lichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind; sonstige operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen sind ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Ferner bestimmt der im konkreten Fall als Rechtsgrundlage herangezogene § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. in seinem ersten Halbsatz, dass im Übrigen Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden können.

Beschlüsse der Vorinsatzen verletzen Beschwer­de­führer in Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar und nichtig ist. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts wurden aufgehoben, da sie mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für die angekündigte Zwangsbehandlung den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

Eingriff in Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen (Zwangs­be­handlung) greift in besonders schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein.

Einsatz von Zwangs­be­hand­lungen nur als letztes Mittel zulässig

Dem Gesetzgeber ist es nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe zuzulassen. Dies gilt auch für eine Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels dient, also darauf gerichtet ist, den Untergebrachten entlas­sungsfähig zu machen. Zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffs kann das grundrechtlich geschützte Freiheits­in­teresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit von Behand­lungs­maß­nahmen oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht krank­heits­bedingt nicht fähig ist. Soweit unter dieser Voraussetzung ausnahmsweise eine Befugnis zur Zwangs­be­handlung anzuerkennen ist, eröffnet dies keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grund­recht­s­träger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseite gesetzt werden dürfte, weil er von durch­schnitt­lichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint. Maßnahmen der Zwangs­be­handlung dürfen nur eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Sie dürfen nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Eine weniger eingreifende Behandlung muss aussichtslos erscheinen. Der Zwangs­be­handlung muss, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, unabhängig von seiner Einsichts- und Einwil­li­gungs­fä­higkeit der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, die auf Vertrauen gegründete Zustimmung des Untergebrachten zu erreichen.

Betroffener muss Möglichkeit haben, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen

Der in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte ist zudem zur Wahrung seiner Grundrechte in besonders hohem Maße auf verfah­rens­rechtliche Sicherungen angewiesen. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen ist eine hinreichend konkrete Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen. Zur Wahrung der Verhält­nis­mä­ßigkeit unabdingbar ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangs­be­handlung durch einen Arzt. Zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes und der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist es geboten, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behand­lungs­maß­nahmen eingehend zu dokumentieren. Im Hinblick auf die besonderen situa­ti­o­ns­be­dingten Grund­rechts­ge­fähr­dungen, denen der Untergebrachte ausgesetzt ist, muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass der Durchführung einer Zwangs­be­handlung zur Erreichung des Vollzugsziels eine Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der Unter­brin­gungs­ein­richtung vorausgeht. Die Ausgestaltung der Art und Weise, in der dies geschieht, ist Sache des Gesetzgebers.

Die wesentlichen materiellen und verfah­rens­mäßigen Voraussetzungen des Eingriffs bedürfen gesetzlicher Regelung.

Eingriffs­er­mäch­tigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. genügt gesetzlichen Anforderungen nicht

Die Eingriffs­er­mäch­tigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. genügt, auch in Verbindung mit weiteren Bestimmungen des rheinland-pfälzischen Maßre­gel­voll­zugs­ge­setzes, diesen Anforderungen nicht. Insbesondere fehlt es an der gesetzlichen Regelung des unabdingbaren Erfordernisses krank­heits­bedingt fehlender Einsichts­fä­higkeit. Auch eine Reihe weiterer für den Grund­rechts­schutz wesentlicher Eingriffs­vor­aus­set­zungen ist nicht oder nur unzureichend geregelt.

Quelle: Bundesverfassunsgericht/ra-online

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