23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.07.2010

BVerfG: Kürzung der Entlastung von Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen teilweise verfas­sungs­widrigAnwendung der Fünftel-Regelung verstößt gegen verfas­sungs­rechtliche Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes

Die Kürzung der Entlastung von Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen durch Anwendung der Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 i. V. m. § 52 Abs. 47 EStG in der Fassung des Steue­r­ent­las­tungs­ge­setzes 1999/2000/2002 ist wegen Verstoßes gegen die verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes teilweise verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Die jährliche Erhebung der Einkommensteuer und der progressive Verlauf des Einkom­men­steu­er­tarifs können zu einer Progres­si­ons­ver­zerrung führen, wenn Einkünfte zusammengeballt in einem Jahr zufließen, die wirtschaft­licher Ertrag mehrerer Veran­la­gungs­zeiträume sind. Die Einkünfte werden dann zu einem erheblichen Teil mit einem höheren Steuersatz belastet, als dies bei der Verteilung des Einkommens auf mehrere Veran­la­gungs­zeiträume der Fäll wäre, ohne dass die finanzielle Leistungs­fä­higkeit des Steuer­pflichtigen entsprechend höher zu bewerten ist. Dieses Problem möglicher Belas­tungs­ver­zer­rungen berücksichtigt § 34 EStG durch eine Steue­r­er­mä­ßigung für "außer­or­dentliche" Einkünfte, zu denen u. a. die Entschädigungen als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen (§ 24 Nr. 1 Buchstabe a EStG) gehören.

Finanzamt wandte statt halben Steuersatz Fünftel-Regelung an

Bis zum Ende des Jahres 1998 galt für die außer­or­dent­lichen Einkünfte ein ermäßigter Tarif, der nur die Hälfte des durch­schnitt­lichen Steuersatzes des Steuer­pflichtigen betrug. Besonders günstig war dies für die Bezieher hoher Einkünfte, bei denen die Einkünfte, selbst wenn sie nicht zusammengeballt zugeflossen wären, dem Spitzen­steu­ersatz unterlegen hätten. Nachdem verschiedene Änderungs­i­n­i­tiativen zunächst erfolglos geblieben waren, trat nach dem Regie­rungs­wechsel im Jahr 1998 an die Stelle des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes die sog. Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steue­r­ent­las­tungs­ge­setzes 1999/2000/2002, das am 09. November 1998 in den Bundestag eingebracht und am 31. März1999 verkündet wurde. Danach werden außer­or­dentliche Einkünfte mit einem Steuersatz besteuert, der hinsichtlich des progressiven Tarifverlaufs angewendet worden wäre, wenn sie anteilig jeweils zu einem Fünftel in fünf Veran­la­gungs­zeit­räumen zugeflossen wären. nach § 52 Abs. 47 EStG galt die Neuregelung ab dem Veran­la­gungs­zeitraum 1999, bezog aber - rückwirkend - auch Entschädigungen ein, die bereits vor der Verkündung der Neuregelung vereinbart worden waren. Die Kläger der drei Ausgangs­ver­fahren erhielten als Arbeitnehmer im Veran­la­gungs­zeitraum 1999 aufgrund der Aufhebung ihres Arbeits­ver­hält­nisses Abfindungen, die jeweils noch vor der Verkündung der Neuregelung im Januar bzw. März 1999 ausgezahlt wurden. Die zugrunde liegenden Aufhe­bungs­ver­ein­ba­rungen wurden teils bereits vor der Einbringung des Geset­ze­s­entwurfs geschlossen (im Oktober 1996 bzw. Juli 1998), teils aber auch erst danach (November 1998). In allen Fällen wandte das Finanzamt anstelle des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes die Fünftel-Regelung an, was eine steuerliche Mehrbelastung von rund 5.000,- DM, 20.000,- DM bzw. 62.000,- DM zur Folge hatte. Die erhobenen Klagen führten jeweils zur Vorlage durch den Bundesfinanzhof. In den zur gemeinsamen Entscheidungen verbundenen Normenkontrollverfahren hat der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts entschieden, dass die rückwirkende Anwendung der Fünftel-Regelung nach § 34 Abs. 1 i. V. m. § 52 Abs. 47 EStG in der Fassung des Steue­r­ent­las­tungs­ge­setzes 1999/2000/2002 wegen Verstoßes gegen die verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes teilweise verfas­sungs­widrig ist.

Unzulässige "echte" Rückwirkung liegt nicht vor

Folgende Erwägungen liegen der Entscheidung zugrunde: Eine grundsätzliche unzulässige "echte" Rückwirkung, bei der die gesetzlichen Rechtsfolgen schon vor dem Zeitpunkt der Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände eintreten sollen ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen"), liegt nicht vor. Denn die Fünftel-Regelung kommt erst ab dem im Zeitpunkt der Änderung noch laufenden Veran­la­gungs­zeitraum zur Anwendung, d. h. für Entschä­di­gungs­zah­lungen, die ab dem 1. Januar 1999 zugeflossen sind. Es liegt aber eine "unechte" Rückwirkung vor, soweit die zugrunde liegende Vereinbarung im Zeitpunkt der Verkündung der Neuregelung am 31. März 1999 bereits getroffen war, weil die Anwendung der Fünftel-Regelung insoweit an einen zurückliegenden Sachverhalt anknüpft. Das ist zwar nicht grundsätzlich unzulässig, mit den grund­recht­lichen und rechts­s­taat­lichen Grundsätzen des Vertrau­ens­schutzes aber nur vereinbar, wenn die Rückanknüpfung zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung recht­fer­ti­genden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Davon ausgehend verstößt die Anwendung der Fünftel-Regelung (anstelle des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes) gegen die verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes, soweit sie auch Entschädigungen erfasst, die bereits im Jahr 1998, aber noch vor der Einbringung der Neuregelung in den Bundestag vereinbart oder - falls die Vereinbarung älteren oder jüngeren Datums ist - zumindest noch vor der Verkündung der Neuregelung ausgezahlt wurden.

Verschlech­terung durch Fünftel-Regelung

Das im Zeitpunkt des Abschlusses der Entschä­di­gungs­ver­ein­barung betätigte Vertrauen in die Anwendung des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes verdient grundsätzlich verfas­sungs­recht­lichen Schutz. Der nach Steuern zu erwartende Nettobetrag ist zumindest auf Seiten des Arbeitnehmers regelmäßig Grundlage für die Eingehung der Abfin­dungs­ver­ein­barung. Der Übergang auf die Fünftel-Regelung führt, wie die Ausgangsfälle zeigen, zu einer Verschlech­terung von erheblichem Gewicht. Die vom Gesetzgeber für die Neuregelung angeführten Gründe rechtfertigen es nicht, dies als zumutbar zu bewerten. Das Interesse an einer Gegen­fi­nan­zierung anderweitiger Steue­r­ent­lastung hat kein hinreichendes Gewicht, da dieser Zweck nicht über den eines allgemeinen Finanzbedarfs hinausgeht und daher den Vertrauensschutz betroffener Steuer­pflichtiger nicht zu überwinden vermag. Auch das Ziel, zweckwidrig überschießende Vergüns­ti­gungs­effekte des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes bei Beziehern hoher Einkommen abzubauen, kann die Versagung von Vertrau­ens­schutz nicht rechtfertigen. Damit ist ebenfalls nur ein allgemeines Änderungs­in­teresse, aber kein Grund zur rückwirkenden Erstreckung bezeichnet, da die Begüns­ti­gungs­effekte des halben durch­schnitt­lichen Steuersatzes dem Gesetzgeber bekannt waren und von ihm in der Vergangenheit im Wesentlichen hingenommen wurden.

Fünftel-Regelung grundsätzlich nicht zu beanstanden

Soweit die Entschä­di­gungs­ver­ein­barung dagegen erst nach der Einbringung der Neuregelung in den Bundestag am 9. November 1998 oder schon vor dem Jahr 1998 getroffen wurde, ist die rückwirkende Anwendung der Fünftel-Regelung grundsätzlich nicht zu beanstanden, denn in diesen Fällen ist das Gewicht des enttäuschten Vertrauens geringer einzuschätzen. Durch die Einbringung des Gesetzentwurfs in den Bundestag zeichnete sich die Rechtsänderung bereits konkret ab, so dass sich die Beteiligten an einer erst nach diesem Zeitpunkt getroffenen Entschä­di­gungs­ver­ein­barung darauf einstellen konnten. Die Beschaffung von Informationen über laufende Gesetz­ge­bungs­ver­fahren ist dem Steuer­pflichtigen nicht unzumutbar. Gerade im Zusammenhang mit speziellen Vertrags­ab­sch­lüssen von einigem wirtschaft­lichen Gewicht, zu denen Abfin­dungs­ver­ein­ba­rungen zählen, ist es gebräuchlich, zweckmäßig und regelmäßig auch zumutbar, professionelle Beratung über deren steuerliche Folgen in Anspruch zu nehmen. Ebenfalls weniger schutzwürdig sind Entschä­di­gungs­ver­ein­ba­rungen, die bereits im Jahr 1997 oder früher getroffen wurden, aber eine Auszahlung erst für das Jahr 1999 oder später vorsahen. Denn soweit mögliche Erwartungen an eine Fortgeltung des alten Rechts über das Folgejahr der Vereinbarung hinausgehen, d. h. zwischen Vereinbarung und Auszahlung zwei oder mehr Veran­la­gungs­zeit­raum­wechsel liegen, musste der Steuer­pflichtige von sich aus die Möglichkeit künftiger Recht­s­än­de­rungen eher in Betracht ziehen und sich darauf durch vertragliche Anpas­sungs­klauseln hinreichend einstellen. Deshalb reichen in diesen Fällen die legitimen Änderungs­in­teressen des Gesetzgebers zur Rechtfertigung einer Enttäuschung des im Zeitpunkt des Abschlusses der Entschä­di­gungs­ver­ein­ba­rungen bestehenden Vertrauens in den künftigen Fortbestand des Rechts aus.

Neuregelung wegen "Wettlauf" zwischen Steuer­pflichtigen und Gesetzgeber ist nicht zu korrigieren

Anderes gilt in diesen Fällen aber, wenn die Entschädigung dem Steuer­pflichtigen noch vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 31. März 1999 zugeflossen ist. In dieser Konstellation handelt es sich um Einkommen, das noch unter der Geltung des alten Rechts erzielt wurde. Auch wenn das bei Abschluss der Entschä­di­gungs­ver­ein­barung betätigte Vertrauen nicht uneingeschränkt schutzwürdig war, dürfen Steuer­pflichtige bei ihren Entscheidungen über Sparen, Konsum oder Investition in jedem Fall darauf vertrauen, dass der Steuer­ge­setzgeber nicht ohne sachlichen Grund von hinreichendem Gewicht den Nettoertrag einer bereits zugeflossenen Entschädigung rückwirkend erheblich mindert. Daran änderte auch das im Zeitpunkt des Zuflusses bereits schwebende Gesetz­ge­bungs­ver­fahren nichts. Ein laufendes Gesetz­ge­bungs­ver­fahren führt zwar dazu, dass den Steuer­pflichtigen die Abstimmung zukunfts­wirksamer Dispositionen auf das künftige Recht eher zuzumuten ist, kann aber die Gewähr­leis­tungs­funktion, die dem geltenden Recht bis zur Verkündung der Neuregelung zukommt, nicht von vornherein suspendieren. Auf diese können sich die Steuer­pflichtigen auch dann berufen, wenn die Entschädigung im Hinblick auf die günstigere alte Rechtslage bewusst bereits im März 1999 ausgezahlt, das Arbeits­ver­hältnis aber erst später aufgelöst wurde. Denn es stellt grundsätzlich keinen Missbrauch dar, sondern gehört zu den legitimen Dispositionen im grundrechtlich geschützten Bereich der allgemeinen (wirtschaft­lichen) Handlungs­freiheit, wenn Steuer­pflichtige darum bemüht sind, die Vorteile geltenden Rechts mit Blick auf mögliche Nachteile einer zukünftigen Gesetzeslage für sich zu nutzen. Die rückwirkende Anwendung der Neuregelung ist insoweit auch nicht durch das - grundsätzlich berechtigte - Anliegen gerechtfertigt, einen unerwünschten Wettlauf zwischen Steuer­pflichtigen und Gesetzgeber im Hinblick auf die Inanspruchnahme der alten Rechtslage zu korrigieren. Eine solche Situation, wie sie etwa bei der Abschaffung von Subven­ti­o­ns­tat­be­ständen eintreten kann, lag nicht vor. Dagegen spricht schon, dass eine Entschädigung nach § 24 Nr. 1 Buchstabe a EStG voraussetzt, dass die Vereinbarung nicht ausschließlich aus eigenem Antrieb, sondern unter einem erheblichem Druck, insbesondere einer ansonsten drohenden Kündigung, zustande gekommen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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