18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss12.10.2010

BVerfG: Vorschriften zur Legehen­nen­haltung verfas­sungs­widrigBundes­ver­fas­sungs­gericht untersagt Klein­grup­pen­haltung für Legehennen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat auf den Normen­kon­trol­lantrag der Landesregierung Rheinland-Pfalz die Regelung zur Klein­grup­pen­haltung von Legehennen (§ 13 b TierSchNutztV) für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Ebenfalls für unvereinbar erklärt wurden die zugehörigen Überg­angs­re­ge­lungen (§ 33 Abs. 3 und 4 TierSchNutztV in der zur Prüfung gestellten Fassung, zwischen­zeitlich § 38 Abs. 3 und 4 TierSchNutztV). Eine Neuregelung muss bis zum 31. März 2012 erfolgen.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 1999 die Hennen­hal­tungs­ver­ordnung vom 10. Dezember 1987 für nichtig erklärt, weil es die Flächenvorgaben für die in dieser Verordnung vorgesehene konventionelle Käfighaltung für unvereinbar mit den Anforderungen des Tierschutz­ge­setzes erachtete; zudem sah es das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG verletzt (BVerfGE 101, 1).

Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung 2002 um Bestimmungen für das Halten von Legehennen ergänzt

Zur Schließung der durch das Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts entstandenen Regelungslücke und zur Umsetzung einer kurz nach dem Urteil erlassenen EG-Richtlinie (Richtlinie 1999/74/EG) wurde im Februar 2002 die Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung um Bestimmungen für das Halten von Legehennen ergänzt. Mit dieser Ergänzung wurde die konventionelle Käfighaltung abgeschafft. Auch so genannte „ausgestaltete Käfige“ nach der Richtlinie 1999/74/EG (größere Käfige, die zudem über eine bestimmte Ausstattung - Sitzstangen, Nest, Scharrfläche - verfügen mussten) wurden nicht zugelassen. Als Haltungsformen waren nur noch die Boden- und die Volièrenhaltung vorgesehen.

2006 erfolgt erneute Änderung der Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung hinsichtlich der Haltungs­an­for­de­rungen für Legehennen

Aufgrund eines Maßga­be­be­schlusses des Bundesrates wurden die Haltungs­an­for­de­rungen für Legehennen und die zugehörigen Überg­angs­fristen durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung vom 1. August 2006 erneut geändert. Die Käfighaltung wurde wieder eingeführt, allerdings nicht mehr in Form der konventionellen Käfige, sondern in Form der so genannten Klein­grup­pen­haltung (§ 13 b TierSchNutztV), deren Anforderungen über die Minde­st­an­for­de­rungen nach der Richtlinie 1999/74/EG hinausgehen. Die Überg­angs­vor­schriften wurden großzügiger ausgestaltet.

Normen­kon­trol­lantrag beanstandet vorgesehene Haltungs­be­din­gungen als tierschut­z­widrig

Gegen diese Bestimmungen - in einer inhaltlich unveränderten späteren Verord­nungs­fassung - richtet sich der Normen­kon­trol­lantrag, der das Verfahren des Zustandekommens der Vorschriften beanstandet und geltend macht, die vorgesehenen Haltungs­be­din­gungen seien tierschut­z­widrig.

Tierschutz­kom­mission wurde erst nach Notifizierung der Europäischen Kommission an Änderungen der Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung beteiligt

Ursprünglich war vorgesehen gewesen, die Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung nur durch Einfügung von Bestimmungen zur Schweinehaltung zu ändern. Dieser Änderung stimmte der Bundesrat jedoch im April 2006 nur mit der Maßgabe zu, dass auch die genannten Bestimmungen zur Legehen­nen­haltung eingefügt würden. Der Text der geplanten Neuregelung in der Fassung des Maßga­be­be­schlusses des Bundesrates vom April 2006 wurde der Europäischen Kommission noch im April 2006 notifiziert. Das Kabinett nahm den Maßga­be­be­schluss des Bundesrates Anfang Mai 2006 zustimmend zur Kenntnis. Danach wurde die Tierschutz­kom­mission beteiligt.

Tierschutz­kom­mission wurde nicht in der laut Tierschutz­gesetz erforderlichen Weise angehört

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die zur Prüfung gestellten Vorschriften halten sich nicht im Rahmen der nach Art. 80 Abs. 1 GG erforderlichen gesetzlichen Ermäch­ti­gungs­grundlage, weil die Tierschutz­kom­mission nicht in der nach dem Tierschutz­gesetz (§ 16 b TierSchG) erforderlichen Weise angehört wurde. Sieht das Gesetz für den Erlass einer Norm ein Anhörungs­er­for­dernis vor, so zielt es darauf, dass das Ergebnis der Anhörung als informatorische Grundlage in die Abwägungs­ent­scheidung des Normgebers einfließt. Die Anhörung ist nicht ordnungsgemäß, wenn sie nur pro forma durchgeführt wird, ohne dass beim Normgeber noch die Möglichkeit oder Bereitschaft besteht, das Ergebnis in der Abwägungs­ent­scheidung zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall wurde die Anhörung nicht beratungsoffen durchgeführt.

Notifizierung an Europäische Kommission erfolgte bereits vor der Sitzung der Tierschutz­kom­mission

Bereits vor der Sitzung der Tierschutz­kom­mission hatte das Kabinett den Maßga­be­be­schluss des Bundesrates vom April 2006 zustimmend zur Kenntnis genommen. Ebenfalls bereits vor der Sitzung der Tierschutz­kom­mission war die Notifizierung an die Europäische Kommission erfolgt. Die Bundesregierung hat sich mit einem auf Staats­se­kre­tär­sebene gefassten Beschluss vom Januar 2005, den sie im vorliegenden Verfahren vorgelegt hat, über wesentliche Modalitäten der Notifizierung verständigt. Üblich ist es danach, Verord­nungs­entwürfe erst nach den erforderlichen Anhörungen zu notifizieren und erst im Anschluss daran das Kabinett zu befassen. Ein Vorziehen der Notifizierung oder der Kabinetts­be­fassung vor die vorgesehenen Anhörungen ist dagegen für keinen Fall vorgesehen. Wenn demgegenüber im vorliegenden Fall die Tierschutz­kom­mission erst befasst wurde, nachdem der Verord­nungs­entwurf sowohl durch das Kabinett gegangen als auch der Europäischen Kommission notifiziert worden war, spricht dies dafür, dass der Verord­nungs­inhalt zum Zeitpunkt der Befassung der Tierschutz­kom­mission bereits beschlossene Sache war.

Zeitdruck hinsichtlich notwendiger Anpassung der Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung rechtfertig keine Abweichung von verfah­rens­recht­lichen Anforderungen

Dies wird bestätigt und bekräftigt durch die besondere Lage, die mit dem Maßga­be­be­schluss des Bundesrates entstanden war. Die in § 65 der Gemeinsamen Geschäfts­ordnung der Bundes­mi­nis­terien normativ aufgenommene Praxis solcher Maßga­be­be­schlüsse ist verfas­sungs­rechtlich als solche nicht zu beanstanden. Welche Grenzen des Sachzu­sam­menhangs dabei gewahrt bleiben müssen und was die Konsequenzen einer Überschreitung dieser Grenzen sind, bedarf hier keiner Entscheidung. Der Beschluss zeigt, dass zum Zeitpunkt der Befassung der Tierschutz­kom­mission die für eine Anhörung erforderliche inhaltliche Offenheit nicht mehr gegeben war. Das Verord­nungs­ver­fahren stand, nachdem die Bundesrepublik Deutschland vom Europäischen Gerichtshof im Jahr 2005 wegen Nichtumsetzung von Richtlinien zur Schweinehaltung verurteilt worden war, auch in zeitlicher Hinsicht unter Anpassungsdruck. Unter diesem Druck konnte das zuständige Ministerium sich dem Ansinnen des Bundesrates nicht entziehen. Dass das Verfahren infolgedessen unter dem Eindruck gestaltet war, man befinde sich unter einem faktischen Zwang, die Verordnung mit den vom Bundesrat gewünschten Inhalten zu erlassen, zeigt sich nicht nur darin, dass von den im Beschluss der Staatssekretäre vom Januar 2005 vorgesehenen Abfolgen von Anhörung, Notifizierung und Kabinetts­be­fassung abgewichen wurde, sondern auch darin, dass entgegen der Empfehlung dieses Beschlusses, zustim­mungs­pflichtige Rechts­ver­ord­nungen erst nach Ablauf der Stillhaltefrist des Notifi­zie­rungs­ver­fahrens dem Bundesrat zuzuleiten, im vorliegenden Fall die Notifizierung im Anschluss an das Bundes­rats­ver­fahren erfolgte. Ein Maßga­be­be­schluss des Bundesrates führt nicht dazu, dass ein im Gesetz für den Erlass einer Rechts­ver­ordnung vorgesehenes Anhörungs­er­for­dernis seine Geltung verliert. Vielmehr darf, wenn der Maßga­be­be­schluss wesentliche Änderungen vorsieht, die Verordnung mit den vorgesehenen Änderungen erst nach erneuter Anhörung erlassen werden. Auch der Zeitdruck, unter dem der Verord­nungsgeber sich im Hinblick auf die notwendige Anpassung der Tierschutz-Nutztier­hal­tungs­ver­ordnung an gemein­schafts­rechtliche Vorgaben befand, kann eine solche Abweichung von den verfah­rens­recht­lichen Anforderungen nicht rechtfertigen. Es ist Sache der zuständigen Normset­zungs­organe, notwendige Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien so frühzeitig einzuleiten, dass das nationale Recht­set­zungs­ver­fahren gemäß den verfah­rens­recht­lichen Vorgaben des deutschen Rechts durchgeführt werden kann.

Verstoß gegen Anhörungs­er­for­dernis ist zugleich Verletzung des Gesetzes zum Schutz der Tiere

Mit dem Verstoß gegen das Anhörungs­er­for­dernis hat der Verord­nungsgeber auch Art. 20a GG verletzt. Art. 20a GG verpflichtet die staatliche Gewalt zum Schutz der Tiere. Als Belang von Verfassungsrang ist der Tierschutz im Rahmen von Abwägungs­ent­schei­dungen zu berücksichtigen. Den normsetzenden Organen, die dem Staatsziel Tierschutz mit geeigneten Vorschriften Rechnung zu tragen haben, kommt dabei ein weiter Gestal­tungs­spielraum zu. Hat allerdings der Gesetzgeber in Ausfüllung dieses Gestal­tungs­spielraums das Ermessen des Verord­nungs­gebers durch Verfah­rens­vor­schriften beschränkt, die gerade das Zustandekommen materiell tierschutz­ge­rechter Ergebnisse des Normset­zungs­ver­fahrens fördern sollen und damit dem Staatsziel Tierschutz dienen, so ist nicht nur einfaches Recht, sondern zugleich Art. 20a GG verletzt, wenn nicht wie gesetzlich vorgegeben verfahren wird. Eine Verordnung, die unter Verstoß gegen das Anhörungs­er­for­dernis des § 16 b Abs. 1 Satz 2 TierSchG erlassen wurde, verletzt danach zugleich Art. 20a GG.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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