21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.10.2014

Prozess­un­terlagen müssen nicht immer in Blindenschrift zugänglich gemacht werdenGleich­be­rechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwangsläufig Vorliegen der Prozess­un­terlagen in Blindenschrift voraus

Das Bundes­verfassungs­gericht hatte über den Anspruch einer sehbehinderten Person zu entscheiden, die Prozess­un­terlagen eines Zivil­rechtss­treits in Blindenschrift zu erhalten. Aus dem Benach­tei­ligungs­verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt der Auftrag, Menschen mit Behinderung so zu stellen, dass ihnen gleich­be­rechtigte Teilhabe wie Menschen ohne Behinderung ermöglicht wird. Eine anwaltlich vertretene Person kann bei übersichtlichem Streitstoff grundsätzlich auf die Kennt­nis­ver­mittlung durch ihren Rechtsanwalt verwiesen werden. Die Fürsorgepflicht des Gerichts erfordert es aber, die Prozess­un­terlagen gleichwohl in Blindenschrift zugänglich zu machen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht gleichwertig mit der unmittelbaren Kenntnis ist.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens ist sehbehindert und beantragte in einem zivil­ge­richt­lichen Berufungs­ver­fahren, die Prozess­un­terlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das Landgericht wies den Antrag zurück. Die zugelassene Rechts­be­schwerde blieb vor dem Bundes­ge­richtshof ohne Erfolg.

BVerfG nimmt Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung an

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass sich das Benach­tei­li­gungs­verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln, erschöpft. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht­be­hin­derter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfah­rens­ord­nungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilha­bemög­lichkeit der einer Partei ohne Behinderung gleich­be­rechtigt ist. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis gerecht. Die Verfas­sungs­be­schwerde wird daher nicht zur Entscheidung angenommen.

Bei übersichtlichem Streitstoff darf auf Vermittlung durch den Rechtsanwalt verwiesen werden

Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozess­un­terlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung dennoch nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugäng­lich­machung gleichwertig ist. Mit § 191 a Abs. 1 Gerichts­ver­fas­sungs­gesetz in der hier maßgeblichen Fassung bis 30. Juni 2014 und mit § 4 Abs. 1 der Zugäng­lich­ma­chungs­ver­ordnung steht eine solche Beschränkung des Anspruchs im Einklang.

Bei übersichtlichem Streitstoff kann Prozess­ge­genstand auch ohne Infor­ma­ti­o­ns­verlust und ohne Beschränkung der Teilha­bemög­lichkeit vom Rechtsanwalt vermittelt werden

Der rechtliche Ausgangspunkt des Bundes­ge­richtshofs, wonach bei einer anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person ein Anspruch auf Zugäng­lich­machung ausgeschlossen sein kann, ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar. Eine gleich­be­rechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwangsläufig voraus, dass der sehbehinderten Partei die Prozess­un­terlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozess­ge­genstand ohne Infor­ma­ti­o­ns­verlust und ohne eine Beschränkung ihrer Teilha­bemög­lichkeit von ihrem Rechtsanwalt vermittelt wird, zumal ihre Unterrichtung zu seinen Pflichten gehört.

Anspruch auf gleich­be­rechtigte Teilha­bemög­lichkeit einer Person mit Behinderung endet nicht mit bloßer Vertretung durch einen Rechtsanwalt

Die aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgende Verantwortung der Gerichte für die gleich­be­rechtigte Teilha­bemög­lichkeit einer Person mit Behinderung endet - über die Entscheidung des Bundes­ge­richtshofs hinaus - aber nicht damit, dass sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wird. Einem Verlangen auf Zugäng­lich­machung des Prozessstoffs ist daher weitergehend auch dann zu entsprechen, wenn dem Gericht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung trotz der Beschränktheit des Streitstoffs nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugäng­lich­machung gleichwertig ist. Damit ist zugleich der Möglichkeit einer sehbehinderten Person zur Überwachung ihres Prozess­be­voll­mäch­tigten in angemessener Weise Rechnung getragen. Kommt dieser seiner Pflicht zur Kennt­nis­ver­schaffung nicht in ausreichender Weise nach, kann sie dies dem Gericht gegenüber vortragen und (erneut) die Zugäng­lich­machung der Prozess­un­terlagen verlangen; bei entsprechenden Anhaltspunkten muss das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht dies von selbst veranlassen.

Anhaltspunkte für unzureichende Kennt­nis­ver­mittlung durch den Prozess­be­voll­mäch­tigten im vorliegenden Fall nicht ersichtlich

Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugäng­lich­machung der Prozess­un­terlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten und ist einer nur eingeschränkten Kontrolle durch das Verfas­sungs­gericht zugänglich. Im Streitfall begegnet sie keinen Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Streitstoff so übersichtlich, dass er dem Beschwer­de­führer durch seinen Rechtsanwalt gut vermittelbar war. Wenn Landgericht und Bundes­ge­richtshof daher davon ausgegangen sind, dass eine Zugäng­lich­machung der Prozess­un­terlagen auch in einer für den Beschwer­de­führer unmittelbar wahrnehmbaren Form nicht erforderlich war, ist dies nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine gleichwohl nur unzureichende Kennt­nis­ver­mittlung durch seinen Prozess­be­voll­mäch­tigten sind nicht ersichtlich und werden von dem Beschwer­de­führer auch nicht dargelegt. Sein allgemeiner Hinweis, dass er nicht die gleiche Möglichkeit gehabt habe, die Tätigkeit seines Bevoll­mäch­tigten zu überwachen, genügt insoweit nicht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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