21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.06.2012

Zurechnung fiktiver Einkünfte eines Unter­halts­pflichtigen bei der Bemessung des Kindes­un­terhalts nicht immer zulässigGerichte müssen Zurechnung eines fiktiven Einkommens im Einzelfall ausreichend begründen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass es verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden ist, dass bei der Bemessung von Kindesunterhalt nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden können, wenn der Unter­halts­ver­pflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwer­b­s­tä­tigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Die Gerichte müssen jedoch bei der Festsetzung dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit Rechnung tragen und im Einzelfall prüfen, ob der Unter­halts­pflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen.

In den vorliegenden Verfahren hat sich das Bundes­ver­fas­sungs­gericht erneut mit den Voraussetzungen befasst, die an die Feststellung der Erwer­bs­fä­higkeit und Erwer­bs­mög­lich­keiten eines Unter­halts­pflichtigen zu stellen sind. Reicht das Einkommen eines Unter­halts­pflichtigen unter Wahrung seines Selbstbehalts nicht aus, um seine Unterhaltspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind in vollem Umfang zu erfüllen, können ihm grundsätzlich fiktiv die Einkünfte zugerechnet werden, die er erzielen könnte, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwer­b­s­tä­tigkeit ausüben würde.

Sachverhalt im Verfahren 1 BvR 774/10

Der Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 774/10 stammt aus Ghana und ist der deutschen Sprache nur begrenzt mächtig. Als Küchenhilfe bezieht er einen Nettoverdienst von rund 1.027 Euro monatlich. Das Amtsgericht verurteilte ihn, an seinen minderjährigen Sohn den Minde­st­un­terhalt von damals 199 Euro im Monat zu zahlen. Es sei davon auszugehen, dass er als ungelernte Arbeitskraft bei entsprechenden Bemühungen eine Erwer­b­s­tä­tigkeit finden könne, die mit einem Brutto­stun­denlohn von 10 Euro vergütet werde, sodass er von dem sich ergebenden Nettoeinkommen unter Berück­sich­tigung des Selbstbehalts in Höhe von 900 Euro den Minde­st­un­terhalt in Höhe von 176 Euro decken könne. Den Fehlbetrag von 23 Euro müsse er mit einer Nebentätigkeit erwirtschaften.

Sachverhalt im Verfahren 1 BvR 1530/11

Der 1953 geborene Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 1530/11, gelernter Baumaschinist und Beton­fach­a­r­beiter, ist körperlich behindert und lebt von Sozia­l­leis­tungen. Das Amtsgericht verurteilte ihn zur Zahlung des Minde­st­un­terhalts in Höhe von damals 285 Euro im Monat, wobei es unterstellte, dass der Beschwer­de­führer bei überregionalen Bemühungen eine Arbeit, beispielsweise als Nachtportier oder Pförtner, finden könne, durch die er ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1.235 Euro monatlich erzielen könne.

Sachverhalt im Verfahren 1 BvR 2867/11

Der körperlich behinderte Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 2867/11 lebt ebenfalls von Sozia­l­leis­tungen. Er wurde vom Amtsgericht zur Zahlung eines Unterhalts von 225 Euro monatlich verpflichtet. Seine körperlichen Einschränkungen entbänden ihn nicht davon, alles ihm Mögliche zur Sicherung des Unterhalts seines minderjährigen Kindes zu unternehmen. Da er keine Angaben zu seinen Bemühungen um eine Arbeit gemacht habe, sei fiktiv von seiner Fähigkeit zur Zahlung des Minde­st­un­terhalts auszugehen.

BverfG rügt Verletzung des Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungs­freiheit

Die von den Beschwer­de­führern jeweils eingelegten Rechtsmittel hatten vor den Oberlan­des­ge­richten keinen Erfolg. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungs­freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzen, und die Sachen jeweils an das zuständige Oberlan­des­gericht zur Entscheidung zurückverwiesen.

Grenzen des Zumutbaren eines Unter­halts­an­spruchs dürfen nicht überschritten werden

Den Beschlüssen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Eltern haben gegenüber ihren minderjährigen Kindern eine gesteigerte Erwer­b­s­ob­lie­genheit. Es ist daher verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der Unter­halts­ver­pflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwer­b­s­tä­tigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Gleichwohl bleibt Grund­vor­aus­setzung eines jeden Unter­halts­an­spruchs die Leistungs­fä­higkeit des Unter­halts­ver­pflichteten. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwer­b­s­ob­lie­genheit haben die Gerichte dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz Rechnung zu tragen und im Einzelfall zu prüfen, ob der Unter­halts­pflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen. Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unter­halts­an­spruchs überschritten, ist die Beschränkung der finanziellen Dispo­si­ti­o­ns­freiheit des Verpflichteten als Folge der Unter­halts­ansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfas­sungs­mäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht der wirtschaft­lichen Handlungs­freiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen.

Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Zurechnung fiktiver Einkünfte

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte zur Begründung der Leistungs­fä­higkeit setzt zweierlei voraus: Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwer­bs­be­mü­hungen des Unter­halts­schuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unter­halts­pflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwer­bs­bio­graphie und Gesund­heits­zustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt.

Voraussetzungen für zulässige Zurechnung fiktiver Einkünfte hier nicht gegeben

Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht, weil sie keine tragfähige Begründung für die Annahme enthalten, der Beschwer­de­führer könnte bei einem Arbeits­platz­wechsel bzw. bei ausreichenden, ihm zumutbaren Bemühungen um einen Arbeitsplatz ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen.

Gericht setzt sich nicht ausreichend mit persönlichen Voraussetzungen des Beschwer­de­führers und tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarkts auseinander

Im Verfahren 1 BvR 774/10 hat das Oberlan­des­gericht ohne nähere Begründung und ohne seine eigene Sachkunde näher darzulegen festgestellt, einem ungelernten Mann sei es möglich, einen Brutto­stun­denlohn von 10 Euro zu erzielen. Dass es sich dabei an den persönlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Beschwer­de­führers und an den tatsächlichen Gegebenheiten am Arbeitsmarkt orientiert hat, ist der angegriffenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Das Oberlan­des­gericht hat sich insbesondere nicht mit dem derzeit für eine ungelernte Kraft erzielbaren Lohn bzw. den aktuellen Mindestlöhnen der verschiedenen Branchen ausein­an­der­gesetzt.

Aufnahme einer Nebentätigkeit kann zumutbar sein

Soweit sich der Beschwer­de­führer zusätzlich gegen die Anrechnung fiktiver Einkünfte aus einer geringfügigen Nebentätigkeit wendet, ist seine Verfas­sungs­be­schwerde dagegen unzulässig, weil er eine Verletzung seiner wirtschaft­lichen Handlungs­freiheit nicht dargetan hat. Eine Obliegenheit zur Erzielung von Nebeneinkünften, die dem Unter­halts­pflichtigen bei der Unter­halts­be­rechnung fiktiv zugerechnet werden können, ist nur dann anzunehmen, wenn und soweit ihm die Aufnahme einer weiteren Erwer­b­s­tä­tigkeit unter Berück­sich­tigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist und ihn nicht unver­hält­nismäßig belastet. Danach ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es ihm unter Abwägung seiner besonderen Lebens- und Arbeits­si­tuation sowie seiner gesund­heit­lichen Belastung mit der Bedarfslage des Unter­halts­be­rech­tigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben, und ob der Arbeitsmarkt entsprechende Neben­tä­tig­keiten für den Betreffenden bietet. Die Darlegungs- und Beweislast liegt insoweit beim Unter­halts­ver­pflichteten. Der Beschwer­de­führer hat nicht dargetan, dass und aus welchen Gründen ihm die Aufnahme einer Nebentätigkeit nicht möglich bzw. nicht zumutbar ist.

Gericht darf nicht ohne Prüfung des Einzelfalls auf volle Leistungs­fä­higkeit der Beschwer­de­führer schließen

In den Verfahren 1 BvR 1530/11 und 1 BvR 2867/11 haben die Gerichte zwar zutreffend festgestellt, dass die Beschwer­de­führer sich nicht ausreichend um eine Erwer­b­s­tä­tigkeit bemüht haben. Sie haben jedoch ebenfalls keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage sie zu der Auffassung gelangt sind, dass die Beschwer­de­führer bei Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer ihren persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wären, ein Einkommen in der zur Leistung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe zu erzielen. Zu dieser Feststellung hätte es einer konkreten Prüfung unter Berück­sich­tigung der beruflichen Ausbildung der Beschwer­de­führer, ihres Alters und ihrer krank­heits­be­dingten Einschränkungen sowie der tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt bedurft. Ohne diese konkrete Prüfung hätten die Gerichte nicht auf die volle Leistungs­fä­higkeit der Beschwer­de­führer in Höhe des titulierten Kindes­un­terhalts schließen dürfen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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