21.11.2024
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Dokument-Nr. 27357

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Bundesverfassungsgericht Beschluss26.03.2019

Vollständiger Ausschluss der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien verfas­sungs­widrigGesetzgeber muss bis zum 31. März 2020 Neuregelung treffen

Der vollständige Ausschluss der Stief­kin­da­d­option allein in nichtehelichen Familien verstößt gegen Artikel 3 Abs. 1 GG. Es ist mit dem allgemeinen Gleich­behandlungs­gebot nicht vereinbar, dass der Stiefelternteil in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien die Kinder des anderen Elternteils nicht adoptieren kann, ohne dass die Verwandtschaft der Kinder zu diesem erlischt, wohingegen in einer ehelichen Familie ein solches Kind gemein­schaft­liches Kind beider Eltern werden kann. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und erklärte die zugrun­de­lie­genden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches für verfas­sungs­widrig und gab dem Gesetzgeber auf, bis zum 31. März 2020 eine Neuregelung zu treffen. Zur Begründung führte der Gerichtshof aus, dass gegen die Stief­kin­da­d­option vorgebrachte allgemeine Bedenken die Benachteiligung von Kindern in nichtehelichen Familien nicht rechtfertigen und sich der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption auf andere Weise als den vollständigen Adopti­o­ns­aus­schluss hinreichend wirksam sichern lässt.

Nach derzeitiger Rechtslage ist eine zur gemeinsamen Elternschaft führende Stiefkindadoption nur möglich, wenn der Stiefelternteil mit dem rechtlichen Elternteil verheiratet ist, während der Stiefelternteil in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien die Kinder des rechtlichen Elternteils nicht adoptieren kann, ohne dass die Verwandtschaft der Kinder zu diesem erlischt (§ 1754 Abs. 1 und Abs. 2 und § 1755 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BGB). Das Kind hätte dann nur noch den Stiefelternteil als rechtlichen Elternteil, was typischerweise nicht im Interesse der Beteiligten liegt. Die Stief­kin­da­d­option ist dadurch nach geltendem Recht in nichtehelichen Familien faktisch ausgeschlossen. Zwischen dem nicht verheirateten Stiefelternteil und dem Kind bestehen keine besonderen gesetzlichen Rechts­be­zie­hungen. Das gilt auch dann, wenn der Stiefelternteil mit dem anderen Elternteil und dem Kind in sozial-familiärer Beziehung lebt. Der nicht verheiratete Stiefelternteil ist weder sorgeberechtigt noch -verpflichtet. Auch nach dem Tod des rechtlichen Elternteils oder einer Trennung bestehen im Stiefeltern-Kind-Verhältnis, abgesehen von der nach § 1685 Abs. 2 BGB möglichen Umgangsregelung, keine besonderen gesetzlichen Rechts­be­zie­hungen.

Gerichte weisen Antrag auf Adoption der Kinder zurück

Die Beschwer­de­führerin zu 1) ist die leibliche Mutter der anzunehmenden Kinder, der Beschwer­de­führer zu 2) und 3). Der mit der Mutter verheiratete leibliche Vater der Kinder verstarb im Jahr 2006. Seit 2007 leben die Beschwer­de­führerin zu 1) und der Beschwer­de­führer zu 4) in nichtehelicher Lebens­ge­mein­schaft. Sie haben davon abgesehen, die Ehe zu schließen, weil die Beschwer­de­führerin zu 1) eine Witwenrente bezieht, die sie als einen wesentlichen Teil ihrer Existenz­grundlage betrachtet und die sie durch die Wieder­ver­hei­ratung verlöre. Die beiden haben einen gemeinsamen, im Jahr 2009 geborenen Sohn. Das Amtsgericht wies den Antrag auf Ausspruch der Annahme der Beschwer­de­führer zu 2) und 3) als gemein­schaftliche Kinder zurück. Die Beschwerde zum Oberlan­des­gericht und die Rechts­be­schwerde zum Bundes­ge­richtshof blieben erfolglos.

BVerfG verweist auf Ungleich­be­handlung von Kindern in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die derzeitige Rechtslage gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Sie führt zu einer Ungleich­be­handlung von Kindern in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien, in denen der Stiefelternteil also nicht mit dem rechtlichen Elternteil verheiratet ist, gegenüber Kindern in ehelichen Stief­kind­fa­milien. Ihnen ist im Gegensatz zu Kindern in ehelichen Stief­kind­fa­milien jegliche Möglichkeit verwehrt, vom Stiefelternteil unter Aufrecht­er­haltung des Verwandt­schafts­ver­hält­nisses zum rechtlichen Elternteil adoptiert und damit zugleich gemein­schaft­liches Kind beider Elternteile zu werden, mit denen es in nichtehelicher Stief­kind­familie zusammenlebt.

Sachgründe für Diffe­ren­zie­rungen müssen im Hinblick auf Ziel und Ausmaß der Ungleich­be­handlung angemessen sein

Diese Benachteiligung ist nicht gerechtfertigt. Die Rechtfertigung bemisst sich nach strengen Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber zwar nicht jede Differenzierung. Diffe­ren­zie­rungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleich­be­handlung angemessen sind. Hinsichtlich der verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an den die Ungleich­be­handlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungs­ge­genstand und Diffe­ren­zie­rungs­merkmalen unter­schiedliche Grenzen für den Gesetzgeber. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheits­rechten ergeben, daraus, dass die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen nicht verfügbar sind oder dass sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern. Danach ist hier ein strengerer Prüfungsmaßstab anzuwenden, weil die Adoption für die Persön­lich­keits­ent­faltung wesentliche Grundrechte des Kindes, nämlich dessen Recht auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiäre Zusammenleben des Kindes mit seinen Eltern betrifft und ihr Ausschluss insgesamt zu dessen Nachteil ist. Überdies ist das nach derzeitiger Rechtslage maßgebliche Diffe­ren­zie­rungs­kri­terium, die Ehe zwischen Elternteil und Stiefelternteil, durch die Kinder weder beinflussbar noch ist den Kindern der Eheverzicht der Eltern zuzurechnen.

BVerfG hält Benachteiligung der betroffenen Stiefkinder für unver­hält­nismäßig

Diesen strengeren Recht­fer­ti­gungs­an­for­de­rungen genügen die angegriffenen Regelungen nicht. Die Benachteiligung der betroffenen Stiefkinder ist jedenfalls unver­hält­nismäßig im engeren Sinne. Generelle Bedenken gegen die Stief­kin­da­d­option können die Benachteiligung von Kindern in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien von vornherein nicht rechtfertigen, weil sie keine spezifischen Probleme der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien betreffen, sondern für eheliche und nichteheliche Stief­kind­fa­milien gleichermaßen gelten.

Kind steht eheliche Familie im vorliegenden Fall schlicht nicht zur Verfügung

Hingegen ist der vom Gesetzgeber mit dem Ausschluss der Stief­kin­da­d­option verfolgte Zweck, zu verhindern, dass ein Kind unter ungünstigen familiären Bedingungen aufwachsen muss, zwar legitim. Dieses Ziel kann in der konkreten Situation des Stiefkindes durch den Adopti­o­ns­aus­schluss jedoch schon deshalb nicht erreicht werden, weil das Kind in aller Regel bereits mit dem Eltern- und dem Stiefelternteil in einer konkreten Familie lebt. Sofern der rechtliche Elternteil des Kindes mit dem Stiefelternteil nicht verheiratet ist, steht dem Kind die eheliche Familie schlicht nicht zur Verfügung.

Ausschluss der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien kein angemessenes Mittel zur Erreichung stabiler Lebens­ver­hältnisse

Legitim ist auch der mit dem Ausschluss der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien verfolgte Zweck, die Stief­kin­da­d­option nur in Stabilität versprechenden Lebens­ge­mein­schaften zuzulassen. So lässt sich das Kind vor Nachteilen schützen, mit denen es gerade infolge der Adoption belastet sein könnte, falls sich Elternteil und Stiefelternteil wieder voneinander trennten, noch bevor sich eine nachhaltige Beziehung zwischen dem Stiefelternteil und dem Kind bilden konnte, das Kind dann aber wegen der Adoption an den Stiefelternteil über die Trennung der Eltern hinaus gebunden bliebe. Indessen ist der vollständige Ausschluss der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien kein angemessenes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks.

Zwar ist verfas­sungs­rechtlich nichts dagegen einzuwenden, dass der Gesetzgeber im Adoptionsrecht die Ehelichkeit der Elternbeziehung als Indikator für Stabilität verwendet. Sind die Eltern die Ehe eingegangen, spricht dies für einen über einen kurzfristigen Bezie­hungs­wunsch hinausgehenden Bindungswillen und damit für die Stabilität der Beziehung. Die gesetzliche Regelung ist jedoch nicht geeignet, stabile nichteheliche Stief­kind­fa­milien zu erfassen, weil sie die Ehelichkeit der Elternbeziehung als notwendigen Stabi­li­täts­in­dikator verwendet und nicht zulässt, eine Stabi­li­täts­er­wartung alternativ durch andere Indikatoren zu begründen.

Gesetzgeber kann auch an nichteheliche Lebens­ge­mein­schaften Stabi­li­täts­er­war­tungen stellen

Soweit der durch vollständigen Adopti­o­ns­aus­schluss in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien erzielbare Schutz der Kinder wirksamer ist als der Schutz, der sich mit einer auf konkretere Stabi­li­täts­pro­gnosen im Einzelfall abstellenden Adopti­o­ns­re­gelung erzielen lässt, wiegt dies die Nachteile nicht auf, die Kindern in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien dadurch entstehen können, dass ihnen die Adoption auch dann versperrt bleibt, wenn die Beziehung der Eltern stabil ist und die Adoption insgesamt ihrem Wohl diente. Der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption lässt sich hinreichend wirksam mit einer auf konkretere Stabi­li­täts­pro­gnosen abstellenden Adopti­o­ns­re­gelung sichern, in deren Rahmen der Gesetzgeber nicht gehindert ist, an nichteheliche Lebens­ge­mein­schaften solche Stabi­li­täts­er­war­tungen zu stellen, wie sie Ehen berech­tig­terweise entge­gen­ge­bracht werden dürfen.

Nichteheliche Familie hat sich mehr und mehr als weitere Familienform neben der ehelichen Familie etabliert

Dass die mittelbar angegriffenen Regelungen eine Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Familien vollständig ausschließen und sie damit auch stabilen nichtehelichen Stief­kind­fa­milien verwehren, ist auch nicht durch Vereinfachungs- und Typisie­rungs­be­fugnisse des Gesetzgebers gerechtfertigt. Der Gesetzgeber darf typisierende Regelungen zwar auch jenseits der Regelung von Vorgängen der Massen­ver­waltung, zu denen die Prüfung der Adopti­o­ns­vor­aus­set­zungen offensichtlich nicht zählt, verwenden, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Benachteiligung Einzelner gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Ist eine Regelung über ungewisse Umstände oder Geschehnisse zu treffen, die sich - wie hier die Bestands­fes­tigkeit einer Paarbeziehung - selbst bei detaillierter Einzel­fa­ll­be­trachtung nicht mit Sicherheit bestimmen lassen, kann es zur Rechts­si­cherheit beitragen, wenn der Gesetzgeber Rechtsfolgen typisierend an klarer zu fassende Tatbe­stands­vor­aus­set­zungen knüpft, die - als Stell­ver­tre­ter­merkmale - die ungewissen Umstände oder Geschehnisse möglichst genau erfassen. Die mit einer Typisierung verbundene Ungleich­be­handlung ist allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen verfas­sungs­rechtlich zu rechtfertigen, die hier nicht erfüllt sind. So liegt dem strikten Ausschluss der Stief­kin­da­d­option in nichtehelichen Stief­kind­fa­milien nicht reali­täts­gerecht der typische Fall als Maßstab zugrunde. Die nichteheliche Familie hat sich mehr und mehr als weitere Familienform neben der ehelichen Familie etabliert. Es gibt keine Erkenntnisse, die heute die Annahme rechtfertigten, dass die Paarbeziehung innerhalb einer nichtehelichen Stief­kind­familie typischerweise besonders fragil und nur in einer kleinen Zahl von Fällen stabil wäre. Die Regelung trifft damit nicht nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil die Falschen, sondern wird immer wieder Stief­kind­fa­milien betreffen, die länger Bestand haben, so dass ein tragfähiges Eltern-Kind-Verhältnis entsteht und die Annahme des Kindes durch den Stiefelternteil dem Kindeswohl dienlich wäre. Das Ausmaß der Ungleich­be­handlung ist zudem intensiv. Für die Kinder entscheidet sich anhand des Familienstands ihrer Eltern, ob sie ihren sozialen Elternteil als rechtlichen Elternteil erhalten können oder nicht. Die Härte ließe sich schließlich ohne übermäßige Schwierigkeiten vermeiden. Es wäre möglich, die Kindes­wohl­dien­lichkeit auch in dieser Konstellation im Einzelfall zu prüfen und dabei statt oder neben dem Ehekriterium alternative Stabi­li­täts­in­di­katoren wie etwa die bisherige Beziehungsdauer zu verwenden.

Verhinderung der Stief­kin­da­d­option benachteiligt betroffene Kinder in nicht gerecht­fer­tigter Weise

Die unter­schiedliche Behandlung von Stiefkindern in ehelichen und nichtehelichen Familien ist im Ergebnis auch nicht durch die in Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten der Ehe enthaltene Wertent­scheidung gerechtfertigt. Ob die adopti­o­ns­rechtliche Benachteiligung nichtehelicher Lebens­ge­mein­schaften gegenüber verheirateten Paaren trotz der Möglichkeit, die angestrebte Adoption nach Eheschließung zu realisieren, einen eigenständigen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründet, kann hier offenbleiben, weil die Verhinderung der Stief­kin­da­d­option jedenfalls die betroffenen Kinder in nicht gerecht­fer­tigter Weise benachteiligt und damit bereits aus diesem Grunde verfas­sungs­widrig ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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