21.11.2024
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Dokument-Nr. 20776

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Beschluss24.02.2015Bundesverfassungsgericht1 BvR 472/14
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • MDR 2015, 465Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2015, Seite: 465
  • NJW 2015, 1506Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2015, Seite: 1506
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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.02.2015

Auskunfts­an­spruch des Scheinvaters gegen die Mutter über geschlechtliche Beziehungen setzt eigene gesetzliche Grundlage vorausPreisgabe geschlecht­licher Beziehungen zu bestimmten Personen stellt schwerwiegende Beein­träch­tigung des allgemeinen Persönlichkeits­rechts dar

Die gerichtliche Verpflichtung einer Mutter, zur Durchsetzung eines Unterhalts­regress­anspruchs des sogenannten Scheinvaters geschlechtliche Beziehungen zu bestimmten Personen preiszugeben, stellt eine schwerwiegende Beein­träch­tigung ihres allgemeinen Persönlichkeits­rechts dar. Dafür bedarf es einer hinreichend deutlichen Grundlage im geschriebenen Recht, an der es fehlt. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden. Einen Beschluss des schleswig-holsteinischen Oberlan­des­ge­richts, durch den die Beschwer­de­führerin im Ausgangs­ver­fahren zur Auskunft­s­er­teilung verpflichtet worden war, hat das Bundes­verfassungs­gericht aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Im Falle einer erfolgreichen Vater­schafts­an­fechtung entfallen die Unter­halts­ansprüche des Kindes gegen den ehemals rechtlichen Vater (sogenannter Scheinvater) rückwirkend. In dem Umfang, in dem dieser bis dahin tatsächlich Unterhalt geleistet hat, gehen die Unter­halts­ansprüche des Kindes gegen den leiblichen Vater auf den Scheinvater über. Ein Auskunftsanspruch des Scheinvaters gegen die Mutter, wer als mutmaßlich leiblicher Vater in Betracht kommt, ist gesetzlich nicht geregelt. Der Bundes­ge­richtshof hat in einer Reihe von neueren Entscheidungen einen gemäß § 242 BGB auf Treu und Glauben gestützten Auskunfts­an­spruch zuerkannt und diesen näher konturiert.

Sachverhalt

Die damals zwanzigjährige Beschwer­de­führerin führte mit dem Antragsteller des Ausgangs­ver­fahrens eine Beziehung, während der sie schwanger wurde. Nachdem die Beschwer­de­führerin und der Antragsteller geheiratet hatten, wurde die Tochter der Beschwer­de­führerin Anfang Oktober 1991 ehelich geboren, so dass der Antragsteller rechtlicher Vater dieses Kindes wurde. Im Jahr 1994 eröffnete die Beschwer­de­führerin dem Antragsteller die Möglichkeit, dass er nicht der leibliche Vater sein könnte. Im Jahr 1995 wurde die Ehe geschieden. Der Antragsteller beantragte das alleinige Sorgerecht für die Tochter. Im Jahr 2010 focht der Antragsteller erfolgreich die Vaterschaft an. Im Oktober 2012 forderte er die Beschwer­de­führerin auf mitzuteilen, wer der mutmaßlich leibliche Vater ihrer Tochter ist, was die Beschwer­de­führerin verweigerte. Das Amtsgericht und das Oberlan­des­gericht verpflichteten sie zur Auskunft­s­er­teilung; hiergegen richtet sich die Verfas­sungs­be­schwerde.

BVerfG bejaht Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts der Beschwer­de­führerin

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die angegriffenen Entscheidungen die Beschwer­de­führerin in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht verletzen, weil sie die Tragweite dieses Grundrechts verkennen. Das allgemeine Persön­lich­keitsrecht schützt mit der Privat- und Intimsphäre auch das Recht, selbst darüber zu befinden, ob, in welcher Form und wem Einblick in die Intimsphäre und das eigene Geschlechtsleben gewährt wird. Dies umschließt das Recht, geschlechtliche Beziehungen zu einem bestimmten Partner nicht offenbaren zu müssen.

Geheim­hal­tungs­in­teresse der Mutter kann gegenüber finanziellem Regres­s­in­teresse eines Scheinvaters weniger schutzwürdig sein

Dem haben die Gerichte hier im Ansatz zutreffend das Interesse des Scheinvaters an der Durchsetzung seines einfach­recht­lichen Regress­an­spruchs gegen­über­ge­stellt. Obwohl das Interesse, selbst darüber zu befinden, ob und wem Einblick in das Geschlechtsleben gewährt wird, verfas­sungs­rechtlich schwer wiegt, mag das Geheim­hal­tungs­in­teresse einer Mutter gegenüber dem finanziellen Regres­s­in­teresse eines Scheinvaters in bestimmten Konstellationen etwa wegen ihres früheren Verhaltens weniger schutzwürdig sein. Eine Verpflichtung der Mutter, dem Scheinvater zur Durchsetzung seines Regress­an­spruchs auch gegen ihren Willen Auskunft über die Person des Vaters zu erteilen, ist darum verfas­sungs­rechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen.

Verfas­sungs­rechtlich geschützte Intimsphäre der Mutter von Vorinstanzen nicht ausreichend berücksichtigt

Im vorliegenden Fall haben die Gerichte jedoch die Bedeutung des Rechts der Beschwer­de­führerin, selbst darüber zu befinden, ob, in welcher Form und wem sie Einblick in ihre Intimsphäre und ihr Geschlechtsleben gibt, unzutreffend eingeschätzt. Das Amtsgericht hat dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht der Beschwer­de­führerin allein deshalb keine Bedeutung beigemessen, weil sie den Antragsteller nicht darüber aufgeklärt habe, dass nicht er allein als biologischer Vater in Betracht komme. Demgegenüber hat das Oberlan­des­gericht zwar festgestellt, dass das allgemeine Persön­lich­keitsrecht der Beschwer­de­führerin berührt ist, es aber nicht weiter mit den finanziellen Interessen des Antragstellers abgewogen. Aufgrund der erfolgreichen Vater­schafts­an­fechtung stehe fest, dass die Beschwer­de­führerin in der Empfängniszeit mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt habe; es gehe also „nur“ noch um die Frage, wer als Vater in Betracht komme. Damit verkennt das Gericht, dass zur verfas­sungs­rechtlich geschützten Intimsphäre der Mutter gerade auch die Frage gehört, mit welchem Partner oder welchen Partnern sie eine geschlechtliche Beziehung eingegangen ist. Dieses Recht war mit der Offenlegung des Mehrverkehrs nicht verbraucht.

Grund­rechts­ver­letzung bejaht

Die gerichtliche Verpflichtung der Mutter, zur Durchsetzung eines Regress­an­spruchs des Scheinvaters Auskunft über die Person des mutmaßlichen Vaters des Kindes zu erteilen, überschreitet unabhängig von den konkreten Umständen des vorliegenden Falls die verfas­sungs­recht­lichen Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung, weil es hierfür an einer hinreichend deutlichen Grundlage im geschriebenen Recht fehlt. Die Beschwer­de­führerin ist dadurch in ihren Grundrechten verletzt (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).

Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung bei Verschlech­terung der rechtlichen Situation des Einzelnen eng gesteckt

Gegen die gerichtliche Begründung von Auskunfts­ansprüchen in Sonder­ver­bin­dungen aufgrund der Generalklausel des § 242 BGB ist verfas­sungs­rechtlich im Grundsatz nichts einzuwenden. Aus verfas­sungs­recht­licher Sicht bieten die privat­recht­lichen Generalklauseln den Zivilgerichten nicht zuletzt die Möglichkeit, die Schutzgebote der Grundrechte zur Geltung zu bringen und so die gesetz­ge­be­rische Erfüllung grund­recht­licher Schutzaufträge zu ergänzen; die Zivilgerichte verhelfen den Grundrechten so in einem Maße zur praktischen Wirkung, das zu leisten der Gesetzgeber im Hinblick auf die unübersehbare Vielfalt möglicher Fallge­stal­tungen allein kaum in der Lage wäre. Die gerichtliche Rechts­fort­bildung stößt jedoch an verfas­sungs­rechtliche Grenzen; solche ergeben sich auch aus den Grundrechten. Soweit die vom Gericht im Wege der Rechts­fort­bildung gewählte Lösung dazu dient, der Verfassung, insbesondere verfas­sungs­mäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, sind die Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung weiter, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird. Umgekehrt sind die Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung demgemäß bei einer Verschlech­terung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt; die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfas­sungs­rechtlich wiegt.

Mit der Auskunfts­ver­pflichtung einhergehende Grund­rechts­be­ein­träch­tigung der Beschwer­de­führerin wiegt schwer

Die grund­recht­lichen Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung sind hier enger gesteckt. Die mit der Auskunfts­ver­pflichtung einhergehende Grund­rechts­be­ein­träch­tigung der Beschwer­de­führerin wiegt schwer. Dem steht hier allein das Interesse des Scheinvaters an einer Stärkung der Durch­set­zungs­fä­higkeit seines einfach­ge­setz­lichen Regress­an­spruchs gegenüber. Dass der Gesetzgeber den Regressanspruch durch­set­zungs­schwach ausgestaltet hat, indem er es unterlassen hat, diesen durch einen entsprechenden Auskunfts­an­spruch zu flankieren, bedarf von Verfassungs wegen nicht der Korrektur. Wie das Interesse der Mutter an der Geheimhaltung intimer Daten ihres Geschlechts­lebens einerseits und das finanzielle Regres­s­in­teresse des Scheinvaters andererseits zum Ausgleich gebracht werden, liegt im Ausge­stal­tungs­spielraum des Gesetzgebers.

Preisgabe des Partners oder der Partner geschlecht­licher Beziehungen setzt konkretere gesetzliche Anknüp­fungs­punkte voraus

Danach können die Gerichte einen Auskunfts­an­spruch in der vorliegenden Konstellation nicht allein auf die Generalklausel des § 242 BGB stützen. Vielmehr setzt die gerichtliche Verpflichtung einer Mutter zur Preisgabe des Partners oder der Partner geschlecht­licher Beziehungen konkretere gesetzliche Anknüp­fungs­punkte voraus, aus denen sich ablesen lässt, dass eine Mutter zur Auskunft­s­er­teilung der fraglichen Art verpflichtet ist. Solche Anknüp­fungs­punkte fehlen hier. In § 1605 BGB ist die Verpflichtung Verwandter geregelt, einander erfor­der­li­chenfalls über ihre Einkünfte und ihr Vermögen Auskunft zu erteilen. Eine Verpflichtung der Mutter, Auskunft über geschlechtliche Beziehungen zu einem Partner zu erteilen, findet sich hingegen nicht, obwohl es auf der Hand liegt, dass zur Durchsetzung eines Regress­an­spruchs die Kenntnis des Erzeugers erforderlich ist und dass in vielen Fällen allein die Mutter Hinweise auf die Person des Erzeugers geben könnte. Auch der Anspruchs­re­gelung in § 1607 Abs. 3 BGB selbst kann der erforderliche Anknüp­fungspunkt nicht entnommen werden. Die Norm begründet lediglich die materielle Rechtsposition, ohne deren Durch­setz­barkeit zu regeln.

Soll der Regressanspruch des Scheinvaters gestärkt werden, müsste der Gesetzgeber tätig werden. Er müsste dabei allerdings dem entge­gen­ste­henden Persön­lich­keitsrecht der Mutter Rechnung tragen, das in dieser Konstellation schwer wiegt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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