21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.03.2011

Polizeiliche Ingewahr­samnahme: Stundenlanges Festhalten zur Durchführung erken­nungs­dienst­licher Maßnahmen unzulässigInhaftierung trotz Vorlage von Ausweispapieren stellt ungerecht­fertigte Freiheits­ent­ziehung dar

Eine polizeiliche Ingewahr­samnahme zur Feststellung seiner Identität und Durchführung erken­nungs­dienst­licher Maßnahmen ist dann unzulässig, wenn sich der Beschuldigte bereits vor Ort ausweisen und somit überprüft werden konnte. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Im zugrunde liegenden Fall betraten die Beschwer­de­führer zusammen mit einer Gruppe von etwa 100 Personen aus dem Umfeld der so genannten Bauwagenszene ohne Erlaubnis ein Grundstück, um das Gelände als neuen Wohnsitz und Abstellort für mehrere mitgeführte Bauwagen zu nutzen. Nachdem gegen sie seitens der Grund­s­tücks­ei­gen­tümerin Strafantrag gestellt worden war, stellte die Polizei vor Ort die Identität der noch anwesenden Personen fest, umstellte die Gruppe und teilte ihnen mit, dass sie wegen Verdachts des Hausfrie­dens­bruchs vorläufig festgenommen seien. Sowohl vor als auch während der anschließenden polizeilichen Räumung des Platzes wiesen die Beschwer­de­führer sich unter Vorlage von gültigen Ausweispapieren aus. Sie wurden sodann zunächst auf die Polizeiwache und später auf das Polizei­prä­sidium gebracht, wo sie jeweils in einer Zelle eingeschlossen waren. Zur erken­nungs­dienst­lichen Behandlung, die in der Anfertigung von zwei bzw. drei Lichtbildern bestand, befanden sie sich mehr als fünf bzw. mehr als acht Stunden im Polizei­ge­wahrsam.

Amtsgericht und Landgericht weisen Vorwurf der Freiheits­ent­ziehung zurück

Die Anträge der Beschwer­de­führer auf gerichtliche Feststellung, dass Grund, Dauer und Durchführung der Freiheits­ent­ziehung rechtswidrig waren, hatten im Berufungs­ver­fahren vor dem Landgericht bzw. bereits vor dem Amtsgericht keinen Erfolg. Das Festhalten der Beschwer­de­führer sei gemäß § 163 b Abs. 1 Satz 2 StPO zur Feststellung ihrer Identität jedenfalls bis zur Vorlage ihrer Perso­na­l­ausweise rechtmäßig gewesen. Ihre daran anschließende Verbringung zu den Polizei­dienst­stellen zur Anfertigung von Lichtbildern finde ihre gesetzliche Grundlage in § 81 b Alt. 1 StPO. Für eine eindeutige Beweisführung sei es erforderlich gewesen, das tatsächliche damalige Aussehen der Beschwer­de­führer zu dokumentieren. Die Dauer der Ingewahrsamnahme sei der Vielzahl der zu erfassenden Personen geschuldet. Eine Freiheits­ent­ziehung sei darin nicht zu sehen.

BVerfG: Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die fachge­richt­lichen Beschlüsse, soweit sie die Maßnahmen der Polizeibehörden auch nach Vorlage und Überprüfung der Ausweispapiere für rechtmäßig erklären, die Beschwer­de­führer insbesondere in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzen. Insoweit hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sachen zur erneuten Entscheidung an das Landgericht bzw. Amtsgericht zurückverwiesen.

Polizeiliche Maßnahmen nicht erforderlich zur Erreichung des angestrebten Zwecks

Den Entscheidungen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Die fachge­richt­lichen Beschlüsse genügen nicht den Anforderungen, die sich unter Berück­sich­tigung der Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG aus dem verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit ergeben. Denn die von den Fachgerichten für rechtmäßig erklärten polizeilichen Maßnahmen erweisen sich, unabhängig davon, auf welcher rechtlichen Grundlage sie ergangen sind, nicht als erforderlich zur Erreichung des angestrebten Zwecks.

Möglichkeiten zur Feststellung der Identität vor Ort war für Polizeibeamten hinreichend gegeben

Die Vorschrift des § 163 b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identi­täts­fest­stellung nur zu, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Als gesetzliche Konkretisierung des verfas­sungs­recht­lichen Verhält­nis­mä­ßig­keits­gebots stellt die Vorschrift sicher, dass ein Eingriff in die persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. So verhielt es sich hier nicht. Die Beschwer­de­führer hatten sich vor Ort mit Ausweispapieren ausgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Ausweise gefälscht waren oder die Personen nicht mit dem Ausweisinhaber übereinstimmten, sind nicht ersichtlich. Daher ist - insbesondere im Hinblick auf das verfas­sungs­rechtlich fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bloßer Identi­täts­fest­stellung und weiterem Festhalten - davon auszugehen, dass es den Polizeibeamten möglich war, die Identität vor Ort hinreichend sicher festzustellen. Ein Festhalten aus reinen Prakti­ka­bi­li­täts­er­wä­gungen vermag die Erfor­der­lichkeit der Maßnahme nicht zu begründen.

stundenlanges Festhalten und Einsperren nicht gerechtfertigt

Auch ein Festhalten der Beschwer­de­führer auf der Grundlage von § 81 b Alt. 2 StPO war unver­hält­nismäßig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass trotz eindeutig festgestellter Identität der Beschwer­de­führer die Erinnerung der einzelnen Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos nicht hinreichend gewährleistet gewesen wäre und es als Erinne­rungs­stütze noch ein Bedürfnis nach weiteren Beweismitteln gab, rechtfertigt dies nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden Fälle eine organisatorisch nicht vermeidbare und mäßige Wartezeit sowie ein Verbringen an andere Polizei­dienst­stellen zur Durchführung erken­nungs­dienst­licher Maßnahmen jedenfalls bei hinreichend gewichtigen Straftaten rechtfertigen. Hier sind die Beschwer­de­führer jedoch erst nach mehreren Stunden im Polizei­prä­sidium lediglich insoweit erken­nungs­dienstlich erfasst worden, dass von ihnen wenige einfache Fotoaufnahmen angefertigt wurden. Im Rahmen der Verhält­nis­mä­ßig­keits­er­wä­gungen hätte es daher zur Annahme der Erfor­der­lichkeit der mehrstündigen Ingewahr­samnahme einer genaueren Ausein­an­der­setzung mit anderen weniger einschneidenden, aber gleich erfolg­ver­spre­chenden Maßnahmen bedurft, wie etwa der Fertigung entsprechender Aufnahmen vor Ort, als die Personen einzeln zur Identi­täts­fest­stellung herausgeführt wurden.

Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheits­ent­ziehung ist ausschließlich Richter vorbehalten

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwer­de­führer zudem in ihrem grund­rechts­gleichen Recht aus Art. 104 Abs. 2 GG. Danach ist die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheits­ent­ziehung allein dem Richter vorbehalten, die spätestens unverzüglich nach Beginn der Freiheits­ent­ziehung zu treffen ist. Das Einsperren der Beschwer­de­führer in Gewahr­sams­zellen sowie das Verbringen dorthin stellen eine Freiheits­ent­ziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich eine Freiheits­be­schränkung dar. Anders als im Regelfall von § 81 b StPO wurden die Beschwer­de­führer nicht allein zur Dienststelle verbracht und umgehend erken­nungs­dienstlich behandelt, sondern zunächst über einen Zeitraum von mehreren Stunden allein verwahrt. Bei der gebotenen Qualifikation der Maßnahme als Freiheits­ent­ziehung hätten sich die Fachgerichte mit der Frage der Notwendigkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung, mit den hierzu getroffenen organi­sa­to­rischen Voraussetzungen sowie mit den Maßnahmen im Einzelfall befassen müssen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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