15.11.2024
15.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss27.07.2016

Verfassungs­beschwerde gegen Berück­sich­tigung von Einkommen eines Familien­an­ge­hörigen bei Gewährung von Grundsicherung erfolglosBeim Zusammenleben im Elternhaus darf Erwerbs­unfähigkeits­rente des Vaters auch auf Grund­sicherungs­leistung des erwachsenen Kindes angerechnet werden

Kann von Familien­an­ge­hörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammen leben, zumutbar erwartet werden, dass sie "aus einem Topf" wirtschaften, darf bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenz­si­chernder Leistungen unabhängig von einem Unter­halts­an­spruch das Einkommen und Vermögen eines anderen Familien­an­ge­hörigen berücksichtigt werden. Allerdings kann nicht in die Bedarfs­ge­mein­schaft einbezogen werden, wer tatsächlich nicht unterstützt wird. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­verfassungs­gerichts hervor. Der Beschwer­de­führer hatte mit seiner Verfassungs­beschwerde insbesondere gerügt, dass die von seinem Vater bezogene Erwerbs­unfähigkeits­rente teilweise bei der Berechnung der Höhe seiner Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes bedarfsmindernd berücksichtigt wurde, obwohl er gegen seinen Vater keinen durchsetzbaren Unter­halts­an­spruch hat.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwer­b­s­un­fä­higkeit bezog. Der Träger der Grund­si­che­rungs­leistung bewilligte dem Beschwer­de­führer Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes nach dem Zweiten Buch Sozial­ge­setzbuch in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwer­de­führer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80 % der Regelleistung anzusetzen sei und die Rente seines Vaters zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwer­de­führers bedarfsmindernd berücksichtigt werden müsse. Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwer­de­führers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums.

Gesetzgeber hat bei wertender Einschätzung des notwendigen Bedarfs Entschei­dungs­spielraum

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärte die Verfas­sungs­be­schwerde für nicht begründet. Der verfas­sungs­rechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesell­schaft­lichen, kulturellen und politischen Leben. Dabei hat der Gesetzgeber einen Entschei­dungs­spielraum bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann daher grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann. Eine Anrechnung ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn zivilrechtlich kein oder nur ein geringerer Unter­halts­an­spruch besteht. Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaft­lichen Verhältnisse der Hilfe­be­dürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften "aus einem Topf".

Anrechnung der Erweb­s­un­fä­hig­keitssrente des Vaters als Beitrag zur Existenz­si­cherung des Sohnes zulässig

Die Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts und die Regelungen zu den Grundsicherungsleistungen in einer Zwei-Personen-Bedarfs­ge­mein­schaft erwachsener Kinder mit einem Elternteil genügen den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenz­si­cherung des Beschwer­de­führers anerkannt wurden, unterschreitet das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht. Zwar sind dem Beschwer­de­führer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. Der Vater verfügte jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenz­si­cherung seines Sohnes beizutragen.

Sozia­l­leis­tungen dürfen um die im familiär-häuslichen Zusammenleben typischen Einsparungen gekürzt werden

Die der Existenz­si­cherung des Beschwer­de­führers dienenden Leistungen lassen sich in ihrer Gesamthöhe nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, zur Gewährleistung einer menschen­würdigen Existenz anerkannte Sozia­l­leis­tungen in Orientierung an der Bedürftigkeit der Betroffenen pauschal um Einsparungen zu kürzen, die im familiären häuslichen Zusammenleben typisch sind. Insbesondere ist hinreichend plausibel, dass jedenfalls in einem Haushalt zusammenlebende Familien­an­ge­hörige umfassend "aus einem Topf" wirtschaften. Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfs­ge­mein­schaft führe zu einer regel­be­da­rfs­re­le­vanten Einsparung von 20 %, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfs­ge­mein­schaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen; sie bewegt sich innerhalb des Entschei­dungs­spielraums des Gesetzgebers. Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschen­würdigen Existenz­mi­nimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet wird.

Übernahme eines überwiegenden Kostenanteils durch die Eltern auch bei einem erwachsenen Kind nicht zu beanstanden

Es ist verfas­sungs­rechtlich auch nicht zu beanstanden, die Leistungen in einer Bedarfs­ge­mein­schaft aus einem Elternteil und einem erwachsenen Kind ungleich zu verteilen. Es erscheint hinreichend plausibel, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Eltern in häuslicher Gemeinschaft auch mit einem erwachsenen Kind regelmäßig den überwiegenden Teil der Kosten tragen und auf Abrechnungen verzichten.

Mit der Anrechnung des elterlichen Einkommens wird der grundgesetzlich garantierte gesetzliche Anspruch des Beschwer­de­führers auf Existenz­si­cherung nicht beseitigt, sondern nur die Höhe des individuellen Leistungs­an­spruchs gegen den Träger der Grundsicherung in Anknüpfung an die tatsächlichen Umstände beschränkt. Der Gesetzgeber geht plausibel davon aus, dass die Existenz­si­cherung nur in dem Umfang erforderlich ist, in dem sie nicht durch Mitglieder einer häuslichen und familiären Gemeinschaft erfolgt.

Gesetzgeber darf gegenseitiges Einstehen zwischen Eltern und Kindern erwarten

Der Gesetzgeber darf sich von der Annahme leiten lassen, dass eine verwandt­schaftliche Bindung in der Kernfamilie, also zwischen Eltern und Kindern, grundsätzlich so eng ist, dass ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann und regelmäßig "aus einem Topf" gewirtschaftet wird. Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unter­halts­be­rech­tigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfs­ge­mein­schaft. Eine Berück­sich­tigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grund­si­che­rungs­an­spruch möglich sein.

Die unter­schiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenz­si­cherung für unter und über 25-jährige Kinder in Bedarfs­ge­mein­schaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern in den Leistungs­systemen des Zweiten Buches und des Zwölften Buches Sozial­ge­setzbuch ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleich­heits­satzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Gesetzliche Ungleich­be­handlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt zumutbar

Der Gesetzgeber bezieht erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfs­ge­mein­schaft ein, weil er damit das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozia­l­leis­tungen in Schonung der Solida­r­ge­mein­schaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungs­be­rech­tigten Personen auszurichten. Dafür ist die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet, denn die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus "aus einem Topf" wirtschaften, ist plausibel. Die Ungleich­be­handlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt ist auch zumutbar. Kommt es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, scheiden Kinder nach der fachge­richt­lichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfs­ge­mein­schaft mit der Folge aus, dass ihnen die volle Regelleistung zusteht und eine Einkom­men­s­an­rechnung nicht stattfindet; sie dürfen dann ohne Anspruchs­verluste ausziehen. Die Unterschiede zwischen den Leistungs­systemen genügen, um ihre unter­schied­lichen Anrech­nungs­regeln sachlich zu rechtfertigen. Das Zwölfte Buch Sozial­ge­setzbuch erfasst Hilfebedürftige, die entweder vorübergehend oder dauerhaft voll erwer­bs­ge­mindert sind. Deren Möglichkeiten, sich selbst zu unterhalten, sind demnach deutlich eingeschränkt. Demgegenüber zielt das Zweite Buch Sozial­ge­setzbuch auf Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt grundsätzlich selbst sichern könnten. Die Leistungen zur Existenz­si­cherung werden vorübergehend gewährt und sie werden durch Leistungen zur Vermittlung in Arbeit ergänzt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss23137

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI