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Dokument-Nr. 8994

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Beschluss10.12.2009Bundesverfassungsgericht1 BvR 3151/07
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss10.12.2009

BVerfG zu anteiligen Kürzung von Emissi­ons­be­rech­ti­gungenBundes­ver­wal­tungs­gericht muss Verteilung von Emissi­ons­be­rech­ti­gungen neu überprüfen

Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat das Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht generell, sondern nur durch konkrete Handhabung der Regeln über die anteilige Kürzung von Emissi­ons­be­rech­ti­gungen verletzt. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Das Kyoto-Protokoll sieht für die Europäische Union für die Jahre 2008 bis 2012 eine Senkung der Emission klima­schäd­licher Treibhausgase um 8 % gegenüber dem Stand von 1990 vor. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung hat die Europäische Gemeinschaft eine Emissi­ons­han­dels­richtlinie erlassen. Diese wurde in Deutschland durch das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (TEHG) und durch Zutei­lungs­gesetze für die Perioden 2005 bis 2007 (ZuG 2007) und 2008 bis 2012 (ZuG 2012) umgesetzt. Die Zutei­lungs­gesetze legen Ziele für die Emission von Kohlendioxid in Deutschland sowie Regeln für die Zuteilung von Emissi­ons­be­rech­ti­gungen fest.

Erlangung von Emissi­ons­ge­neh­mi­gungen

Der Grund­me­cha­nismus des damit geregelten Emissi­ons­han­dels­systems lässt sich wie folgt beschreiben: Die Freisetzung von Kohlendioxid durch bestimmte unter den Anwen­dungs­bereich des TEHG fallende Tätigkeiten bedarf einer Emissi­ons­ge­neh­migung. Diese Genehmigung setzt voraus, dass der Verantwortliche - in der Regel der Anlagen­be­treiber - im Stande ist, die durch seine Tätigkeit verursachten Emissionen zu ermitteln und hierüber Bericht zu erstatten. Der Verantwortliche ist sodann verpflichtet, bis zum 30. April eines jeden Jahres eine Anzahl von Emissi­ons­be­rech­ti­gungen an das Umweltbundesamt als zuständige Behörde abzuliefern, die den durch seine Tätigkeit im vorangegangenen Kalenderjahr verursachten Emissionen entspricht. Vor Beginn der Zutei­lungs­periode haben die Verant­wort­lichen allerdings nach Maßgabe des jeweiligen Zutei­lungs­ge­setzes einen Anspruch auf Zuteilung von Berechtigungen durch das Umweltbundesamt. Um das im ZuG 2007 für die Zutei­lungs­periode 2005 bis 2007 festgelegte Budget von 495 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einzuhalten, wurden die beabsichtigten Zuteilungen für bestimmte Anlagen gemäß § 4 Abs. 4 ZuG 2007 anteilig - nämlich um rund 4,6 % - gekürzt. Hiervon betroffen waren insbesondere Bestandsanlagen, deren Zuteilungen auf der Grundlage ihrer historischen Emissionen bereits um einen gesetzlich festgelegten Erfül­lungs­faktor zu kürzen waren. Von der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 ausgenommen waren zum Beispiel Zuteilungen an Neuanlagen, die auf der Grundlage der besten verfügbaren Technik erfolgten, oder Zuteilungen für prozessbedingte Emissionen.

Beschwer­de­führerin widerspricht anteiliger Kürzung ihrer Berechtigungen

Die Beschwer­de­führerin - eine Aktien­ge­sell­schaft - ist ein Unternehmen der Energie­wirt­schaft, das in F. ein Kraftwerk betreibt. Mit Bescheid des Umwelt­bun­desamts wurden für dieses Werk 60.954.891 Berechtigungen zugeteilt. Ohne anteilige Kürzung hätte das Unternehmen weitere 2.952.660 Berechtigungen erhalten. Der hierauf eingelegte Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die anschließend erhobene Klage und die Revision zum Bundes­ver­wal­tungs­gericht. Die Beschwer­de­führerin hat am 12. Dezember 2007 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie wendet sich unmittelbar gegen das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts sowie mittelbar gegen § 4 Abs. 4 ZuG 2007 und rügt die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 und Art. 2 Abs. 1 GG.

Rechts­schutz­be­dürfnis auch nach Ablauf der Zutei­lungs­periode 2005 bis 2007 nicht entfallen

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist zulässig. Insbesondere ist das Rechts­schutz­be­dürfnis der Beschwer­de­führerin auch nach Ablauf der Zutei­lungs­periode 2005 bis 2007 nicht entfallen. Es ist durch die höchst­rich­terliche Rechtsprechung noch nicht geklärt, ob der Anspruch der Beschwer­de­führerin auf Mehrzuteilung von Berechtigungen für die Zutei­lungs­periode 2005 bis 2007 trotz deren Ablaufs noch erfüllt werden kann oder ob sich der Anspruch mittlerweile erledigt hat. Selbst dann, wenn man von der Erledigung des Zutei­lungs­an­spruchs für diese Periode ausgeht, ist die Beschwer nicht entfallen. Denn bei Bestehen eines berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechts­wid­rigkeit der Zutei­lungs­ent­scheidung - wie im Falle der beabsichtigten Geltendmachung eines Schaden­s­er­satz­an­spruchs - kann die Klage auf Zuteilung weiterer Berechtigungen als Forts­et­zungs­fest­stel­lungsklage fortgeführt werden.

Drohende wiederholte Verletzung der Zuteilungen gebietet verfas­sungs­ge­richtliche Prüfung

Sollte man den Ausgangs­rechtsstreit trotzdem für erledigt halten, ist hier für die Verfas­sungs­be­schwerde vom Vorliegen eines Rechts­schutz­be­dürf­nisses auszugehen. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat im Falle der Erledigung des mit der Verfas­sungs­be­schwerde verfolgten Begehrens die entscheidenden Kriterien für das Fortbestehen eines Rechts­schutz­be­dürf­nisses darin gesehen, dass entweder die Klärung einer verfas­sungs­recht­lichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwer­de­führer noch weiterhin beeinträchtigt. Die der Beschwer­de­führerin bei der Anwendung des für die Zutei­lungs­periode 2008 bis 2012 geltenden ZuG 2012 drohende Wiederholung der von ihr behaupteten Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Gerichte gebietet eine verfas­sungs­ge­richtliche Prüfung schon zum vorliegenden Zeitpunkt. Soweit sich die Verfas­sungs­be­schwerde gegen § 4 Abs. 4 ZuG 2007 wendet, kann eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht festgestellt werden. Hinsichtlich der konkreten Anwendung von § 4 Abs. 4 ZuG 2007 hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen.

Gericht hätte prüfen müssen, ob Behörde Zutei­lungs­maßstäbe und Zutei­lungs­regeln des Gesetzes verkannt hat

In der Auslegung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts ergibt sich aus § 4 Abs. 4 ZuG 2007 die Befugnis der zuständigen Behörde, zur Ermittlung des Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 über die Menge der nach den Vorschriften des ZuG 2007 zuzuteilenden Berechtigungen eine Prognose zu treffen, deren verwal­tungs­ge­richtliche Kontrolle beschränkt ist. Die Gerichte hätten nur zu prüfen, ob die Behörde zum maßgeblichen Zeitpunkt die Zutei­lungs­maßstäbe und Zutei­lungs­regeln des Gesetzes generell verkannt und damit einen unzutreffenden Prognosemaßstab zugrunde gelegt habe. Die Progno­se­ent­scheidung sei zu beanstanden, wenn die Prüfung der Richtigkeit der nach dem ZuG 2007 erforderlichen Angaben der Anlagen­be­treiber generell nicht dem Maßstab des § 17 ZuG 2007 entsprochen habe, wenn die Zutei­lungs­regeln der §§ 7 ff. ZuG 2007 generell unzutreffend angewendet worden seien oder wenn die Berechnung des Kürzungsfaktors generell auf einer fehlerhaften Auslegung der Behörde beruhe. Demgegenüber führe die unrichtige Anwendung des Gesetzes bei Zuteilungen im Einzelfall nicht zur Rechts­wid­rigkeit der ermittelten Zuteilungsmenge oder des daraus abgeleiteten Kürzungsfaktors. Da die Rechtmäßigkeit der Progno­se­ent­scheidung von individuellen Fehlzuteilungen unberührt bleibe, seien im Zutei­lungs­ver­fahren unterlaufene Fehler ungeeignet, die Vertretbarkeit der behördlichen Prognose über die Zuteilungsmenge in Frage zu stellen. Soweit der von der Behörde ermittelte Kürzungsfaktor hiernach rechtmäßig sei, sei er auch für die gerichtliche Nachprüfung angefochtener Zutei­lungs­be­scheide maßgeblich.

Der Bürger hat nach Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch auf möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Dazu gehört vor allem, dass der Richter eine hinreichende Prüfungs­be­fugnis über die tatsächliche und rechtliche Seite des Rechts­schutz­be­gehrens hat sowie über eine zureichende Entschei­dungsmacht verfügt, um einer erfolgten oder drohenden Rechts­ver­letzung wirksam abzuhelfen. Jedoch kann auch nach Art. 19 Abs. 4 GG die gerichtliche Überprüfung nicht weiter reichen als die materi­ell­rechtliche Bindung der Exekutive. Die gerichtliche Kontrolle endet also dort, wo das materielle Recht der Exekutive in verfas­sungs­rechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Entschei­dungs­pro­gramme vorzugeben. In welchem Fall der Gesetzgeber der Verwaltung die Befugnis zur Letztent­scheidung einräumt, ist durch Auslegung der betreffenden gesetzlichen Regelung zu ermitteln. Allerdings kann sich auch dann die Letztent­schei­dungs­be­fugnis der Behörde nur auf die konkrete Rechtsanwendung - die Subsumtion - und nicht auf die Beurteilung der rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und deren Rechtmäßigkeit, beziehen. Die Interpretation der generell-abstrakten Rechtsnorm und der in ihr enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe ist eine originäre Funktion der recht­spre­chenden Gewalt, nicht Aufgabe der Verwaltung.

Verletzung des Grundgesetzes nicht ersichtlich

Bei Anwendung dieser Vorgaben ist hinsichtlich der grundsätzlichen Annahme des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts, § 4 Abs. 4 ZuG 2007 räume dem Umweltbundesamt einen Progno­se­spielraum ein, eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG nicht ersichtlich. Diese Auslegung kann sich insbesondere auf eine funktional-gewal­ten­t­eilende Rechtfertigung einer Letztent­schei­dungs­be­fugnis stützen. Bestimmt der Gesetzgeber, dass für die Berechnung des Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 der Zeitpunkt unmittelbar vor Erteilung der Zutei­lungs­be­scheide maßgeblich sein soll, kann daraus nur geschlossen werden, dass der zuständigen Behörde bei der Bestimmung der für die Berechnung des Kürzungsfaktors relevanten Gesamtmenge der zuzuteilenden Berechtigungen ein Progno­se­spielraum eingeräumt werden soll. Denn der Gesetzgeber konnte bei einer solchen Verfah­rens­ge­staltung nicht davon ausgehen, dass die vor Beginn des Zutei­lungs­ver­fahrens ermittelte Zuteilungsmenge sich aus einzelnen Zutei­lungs­be­scheiden zusammensetzt, deren jeweilige Rechtmäßigkeit in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt worden ist. Vielmehr konnte der Gesetzgeber bei der Normierung eines solchen Berech­nungs­ver­fahrens von der Behörde nur verlangen, dass sie mit den abstrakt-generellen Maßstäben des Gesetzes hinreichend vertraut ist sowie auf der Grundlage von Zutei­lungs­an­trägen entscheidet, deren Angaben hinreichend auf ihre Richtigkeit überprüft wurden. Hält der Gesetzgeber diesen Zeitpunkt für die Berechnung des Kürzungsfaktors für maßgeblich, gilt dies auch für die gerichtliche Kontrolle.

Nachträgliche Änderungen individueller Zuteilungen für Kürzungsfaktor unerheblich

Dass für die Berechnung des Kürzungsfaktors nur der Zeitpunkt unmittelbar vor Erteilung der Zuteilungen maßgeblich sein sollte, ist in der hier angegriffenen Entscheidung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts in verfas­sungs­ge­richtlich nicht zu beanstandender Weise begründet worden. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht hat - indem es zudem auf die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Zutei­lungs­ver­fahrens abstellte - gut vertretbar begründet, dass nachträgliche Änderungen individueller Zuteilungen für den Kürzungsfaktor unerheblich sein sollen. Wäre die Rechtmäßigkeit des Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 davon abhängig, dass alle in die Berechnung der relevanten Zuteilungsmenge eingestellten Einzel­zu­tei­lungen bestandskräftig feststünden, wäre eine Bestimmung des Kürzungsfaktors innerhalb der Zutei­lungs­periode, für die die Berechtigungen zuzuteilen wären, angesichts der zu erwartenden Dauer der Gerichts­ver­fahren praktisch nicht möglich. Darüber hinaus würde eine in einer Vielzahl von Verfahren und in mehreren Instanzen erfolgende Überprüfung der Richtigkeit sämtlicher Zuteilungen zur Feststellung des richtigen Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 zu einem juristischen "perpetuum mobile" führen.

Die von der Beschwer­de­führerin genannten Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG stehen dem durch § 4 Abs. 4 ZuG 2007 eingeräumten Progno­se­spielraum ebenfalls nicht entgegen. Allein der Umstand, dass eine Verwal­tungs­ent­scheidung mit einer Grund­rechts­be­ein­träch­tigung verbunden ist, löst nicht automatisch ein Verbot jeder Letztent­schei­dungs­er­mäch­tigung aus.

Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts verletzt Grundgesetz hinsichtlich des eingeräumten Progno­se­spielraums

Das Urteil des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts verletzt aber Art. 19 Abs. 4 GG, soweit es um die konkrete Anwendung des von § 4 Abs. 4 ZuG 2007 eingeräumten Progno­se­spielraums geht. Soweit das Bundes­ver­wal­tungs­gericht davon ausgegangen ist, die Rechts­wid­rigkeit einer die gesetzlichen Zutei­lungs­regeln näher bestimmenden Rechts­ver­ordnung - nämlich der für prozessbedingte Emissionen geltende § 6 Abs. 6 Zutei­lungs­ver­ordnung 2007 - sei für die Rechtmäßigkeit der Progno­se­ent­scheidung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 unbeachtlich, obwohl die anteilige Kürzung für die Beschwer­de­führer weniger streng ausgefallen wäre, verkennt das Gericht die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben grundsätzlich.

Letztent­schei­dungs­be­fugnis entbindet Fachgerichte nicht von Prüfung abstrakt-genereller Vorgaben

Die in Paral­le­l­ent­schei­dungen vom Bundes­ver­wal­tungs­gericht (siehe nur Urteil vom 16. Oktober 2007 - 7 C 28.07 -) gegebene Begründung zur Unbeacht­lichkeit der Nichtigkeit der Rechts­ver­ordnung, die auf die Offen­sicht­lichkeit von deren Rechts­wid­rigkeit abstellt, trägt die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle nicht. Die gesetzliche Einräumung einer Letztent­schei­dungs­be­fugnis entbindet die Fachgerichte nicht von der Prüfung der abstrakt-generellen Vorgaben. Ist eine Letztent­schei­dungs­be­fugnis eingeräumt, kann sich dies nur auf die konkrete Rechtsanwendung - die Subsumtion - und nicht auf die Beurteilung der rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und deren Rechtmäßigkeit, beziehen.

Quelle: ra-online, BVerfG

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