21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.12.2018

Baden-württem­ber­gische und hessische Regelungen zur automatisierten Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen­kontrolle in Teilen verfas­sungs­widrigVerfas­sungs­widrige Vorschriften größtenteils allerdings bis zum 31. Dezember 2019 weiter anwendbar

Die polizei­recht­lichen Vorschriften zur Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen­kontrolle in Baden-Württemberg und Hessen sind teilweise verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht unter Zugrundelegung der Maßstäbe aus dem Beschluss vom selben Tag (vgl. Bundes­verfassungs­gericht, Beschluss v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -). Das Bundes­verfassungs­gericht erklärte die verfas­sungs­widrigen Vorschriften größtenteils allerdings übergangsweise für weiter anwendbar, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2019.

Die Polizei in Baden-Württemberg und Hessen wird mit den angegriffenen Vorschriften dazu ermächtigt, durch den Einsatz von Kennzei­chen­le­se­systemen verdeckt die Kennzeichen von Kraftfahrzeugen zu erfassen und diese mit zur Fahndung ausge­schriebenen Kennzeichen abzugleichen (vgl. Bundes­ver­fas­sungs­gericht, Beschluss v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -). Anders als nach der Verwal­tung­s­praxis in Bayern wird bei Erstellung der Abgleichdatei in Baden-Württemberg und Hessen nicht nach dem Zweck der Kennzei­chen­kon­trolle unterschieden, so dass der zum Abgleich herangezogene Datenbestand, der seine Grundlage insbesondere in den Sachfahn­dungsdaten des Schengener Infor­ma­ti­o­ns­systems hat, nicht je nach Zweck der Aufstellung des Kennzei­chen­le­se­systems variiert.

Beschwer­de­führer rügen Eingriff in Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung

Die Beschwer­de­führer wenden sich mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde unmittelbar gegen die Regelungen der Kennzei­chen­kon­trolle in den jeweiligen Landes­po­li­zei­ge­setzen selbst (Rechts­satz­ver­fas­sungs­be­schwerde). Sie seien Halter von Perso­nen­kraftwagen, mit denen sie regelmäßig auf den Straßen von Baden-Württemberg und Hessen unterwegs sind, und würden deshalb mit erheblicher Wahrschein­lichkeit unbemerkt in solche Kennzei­chen­kon­trolle geraten. In diesen liege ein Eingriff in ihr Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung. Eine Rechtfertigung dieser Grund­recht­s­ein­griffe scheide aus, da die gesetzlichen Grundlagen der Kennzei­chen­kon­trolle formell verfas­sungs­widrig seien und gegen die verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze der Bestimmtheit und Verhält­nis­mä­ßigkeit verstießen.

BVerfG erklärt Rechts­satz­ver­fas­sungs­be­schwerden trotz nicht ausgeschöpftem fachge­richt­lichen Rechtsweg für zulässig

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Rechts­satz­ver­fas­sungs­be­schwerden zulässig sind, auch wenn die Beschwer­de­führer zuvor nicht den fachge­richt­lichen Rechtsweg erschöpft haben. Nach dem Subsi­dia­ri­täts­grundsatz sind Beschwer­de­führer grundsätzlich dazu verpflichtet, alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grund­rechts­ver­letzung abhelfen könnten. Dazu kann bei Verfas­sungs­be­schwerden unmittelbar gegen ein Gesetz auch die Erhebung einer Feststellungs- oder Unter­las­sungsklage gehören. Das ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die fachge­richtliche Prüfung für den Beschwer­de­führer günstigs­tenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vorgelegt wird. Entscheidend ist, ob die fachge­richtliche Klärung erforderlich ist, um zu vermeiden, dass das Bundes­ver­fas­sungs­gericht seine Entscheidungen auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Die Pflicht zur vorherigen Anrufung der Fachgerichte darf Beschwer­de­führer dabei aber nicht vor unabsehbare Risiken hinsichtlich der ihnen zu Gebote stehenden Handlungs­mög­lich­keiten und der hierbei zu beachtenden Fristen stellen. Es bedarf insoweit einer rechts­schutz­freund­lichen Auslegung.

Einlegen von Unter­las­sungs­klagen vor Fachgerichten hier nicht zumutbar

Grundsätzlich waren die Beschwer­de­führer danach verpflichtet, zunächst Unter­las­sungs­klagen gegen die Kennzei­chen­kon­trollen vor den Fachgerichten einzulegen. Dies war ihnen vorliegend jedoch nicht zumutbar, da in der letzten Entscheidung des Ersten Senats zu dem gleichen Thema bei gleicher prozessualer Ausgangslage die Möglichkeit einer Unter­las­sungsklage noch nicht einmal in Erwägung gezogen wurde. Hinzu kommt, dass inzwischen über den Kern des Beschwer­de­vor­bringens von den Fachgerichten bis hin zum Bundes­ver­wal­tungs­gericht entschieden wurde und eine Verweisung der Beschwer­de­führer auf den Rechtsweg die Entschei­dungs­grundlagen für die Beurteilung der Vorschriften heute daher nicht mehr verbreitern könnte.

BVerfG bejaht Eingriff in Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung

Die Verfas­sungs­be­schwerden sind zudem teilweise begründet. Die Regelungen zur Kraft­fahr­zeug­kenn­zei­chen­kon­trolle greifen nach den Maßstäben, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in seinem am gleichen Tag veröf­fent­lichten Beschluss zu entsprechenden Vorschriften des Freistaats Bayerns entwickelt hat, in das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein (vgl. Bundes­ver­fas­sungs­gericht, Beschluss v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -).

Hinsichtlich der Vereinbarkeit der angegriffenen Normen mit den formellen Anforderungen der Verfassung bestehen weithin keine Bedenken. Die Regelungen zur Kennzei­chen­kon­trolle in beiden Ländern sind überwiegend der Gefahrenabwehr zuzuordnen, für welche die Länder die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz innehaben.

Automatisierte Kennzei­chen­kon­trollen zur Unterstützung polizeilicher Kontrollstellen oder Kontroll­be­reichen zur Fahndung nach Straftätern formell verfas­sungs­widrig

Aus formellen Gründen nicht mit der Verfassung vereinbar ist jedoch, dass in Baden-Württemberg automatisierte Kennzei­chen­kon­trollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen oder Kontroll­be­reichen zur Fahndung nach Straftätern vorgesehen sind. Hier fehlt dem Land schon für die Bestimmungen, die die Einrichtung solcher Kontrollstellen und -bereiche selbst regeln, die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz. Es handelt sich um Regelungen zur Strafverfolgung, für die der Bund die konkurrierende Gesetz­ge­bungs­kom­petenz hat und von der er auch abschließend Gebrauch gemacht hat. Entsprechend ist die Regelung der Kennzei­chen­kon­trolle, die als tatbestandliche Voraussetzung auf diese Regelung verweist, verfas­sungs­widrig. Es fehlt insoweit an einer hinreichend bestimmten und begrenzenden Anknüpfung für die Kennzei­che­n­er­fassung.

Auch hessische Regelungen zu automatisierten Kennzei­chen­kon­trollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen formell verfas­sungs­widrig

Formell nicht mit der Verfassung vereinbar sind auch die hessischen Regelungen zu automatisierten Kennzei­chen­kon­trollen, soweit sie zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen zur Verhinderung von versamm­lungs­recht­lichen Straftaten dienen, sowie wiederum auch die Regelung zur Einrichtung solcher Kontrollstellen selbst. Der Gesetzgeber darf solche Kontrollen zwar vorsehen. Weil in ihnen jedoch ein Eingriff in die Versamm­lungs­freiheit des Art. 8 GG liegt, muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe dessen Artikels nennen (sogenanntes Zitiergebot, vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Dem genügen die angegriffenen Vorschriften nicht.

In materieller Hinsicht sind die angegriffenen Vorschriften mit den aus dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz folgenden Anforderungen nicht in jeder Hinsicht vereinbar. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht greift hierfür auf seine Maßstäbe für polizeiliche Kontrollen zurück, die er im ebenfalls heute veröf­fent­lichten Beschluss zu entsprechenden Regelungen in Bayern ausgeführt hat (vgl. Bundes­ver­fas­sungs­gericht, Beschluss v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -).

Regelungen der Kennzei­chen­kon­trolle fehlt es an Beschränkung auf Schutz bestimmter Rechtsgüter

Den Regelungen der Kennzei­chen­kon­trolle in Baden-Württemberg und Hessen fehlt es hinsichtlich der tatbe­stand­lichen Voraussetzung der allgemeinen Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an einer Beschränkung auf den Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse.

Grenzbezug für automatisierte Kennzei­chen­kon­trollen nicht hinreichend bestimmt und begrenzt

Soweit die Kennzei­chen­kon­trolle als Mittel der Schlei­er­fahndung erlaubt wird, stellen die Regelungen beider Länder nicht sicher, dass derartige Kontrollen nur an Orten mit einem hinreichend klaren Grenzbezug erfolgen dürfen. Indem die Schlei­er­fahndung in Baden-Württemberg allgemein auf Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenz­über­schreitende Kriminalität im ganzen Land eröffnet wird, ist der Grenzbezug für automatisierte Kennzei­chen­kon­trollen nicht hinreichend bestimmt und begrenzt. Diesen Anforderungen werden auch die hessischen Regelungen nicht gerecht, soweit sie die Schlei­er­fahndung auf allen Straßen im ganzen Land zur Bekämpfung der grenz­über­schrei­tenden Kriminalität eröffnen.

Gesetzliche Voraussetzungen für Durchführung von Kennzei­chen­kon­trollen ansonsten nicht zu beanstanden

Im Übrigen sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Kennzei­chen­kon­trolle in beiden Ländern, die sich wesentlich aus einem Verweis auf die Regelungen zur Identi­täts­fest­stellung ergeben, verfas­sungs­rechtlich weder hinsichtlich der Anforderungen an einen hinreichend bestimmten konkreten Anlass noch hinsichtlich der Anforderungen an einen hinreichend gewichtigen Rechts­gü­ter­schutz zu beanstanden. Dies gilt für die Ermächtigung zur Kontrolle an gefährlichen und gefährdeten Orten, zum Schutz besonders gefährdeter Personen sowie zur Unterstützung polizeilicher Kontrollstellen zur Verhütung besonders schwerer Straftaten, wenn bereits die Einrichtung derartiger Kontrollstellen eine konkrete Gefahr voraussetzt.

Regelungen zum Datenabgleich bedarf einschränkende verfas­sungs­konforme Auslegung

Einer einschränkenden verfas­sungs­kon­formen Auslegung bedürfen allerdings die Regelungen zum Datenabgleich. Sie müssen so verstanden werden, dass sich der Umfang des erlaubten Datenabgleichs jeweils auf diejenigen Fahndungs­be­stände beschränkt, die für den konkreten Zweck der Kennzei­chen­kon­trolle von Bedeutung sind. Das in den Verfahren zum Ausdruck gekommene gegenläufige Verständnis in der Praxis genügt diesen Anforderungen nicht.

Vorschriften zur Verwendung der Daten für weitere Zwecke unzureichend

Die Vorschriften zur Verwendung der Daten für weitere Zwecke entsprechen den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an eine Zweckänderung nicht. Nach dem Kriterium der Daten­neu­er­hebung ist die Verwendung der Informationen nur zulässig, wenn diese auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln neu erhoben werden dürften. Dies stellen weder die baden-württem­ber­gischen noch die hessischen Regelungen ausreichend sicher.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm)

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