15.11.2024
15.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss26.06.2014

Versammlungs­rechtliche Auflagen müssen sich auf notwendige Eingriffe in die Versammlungs­freiheit beschränkenSanktionierung der Lautspre­cher­durchsagen greift in Schutzbereich der Versammlungs­freiheit ein

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen die Verurteilung der Beschwer­de­führerin zu einem Bußgeld wegen Verstoßes gegen eine versammlungs­rechtliche Auflage richtet. Für einen Aufzug am 1. Mai hatte die Versamm­lungs­behörde die Benutzung von Lautsprechern nur für Ansprachen im Zusammenhang mit dem Versamm­lungsthema sowie für Ordnungs­durchsagen zugelassen. Die Beschwer­de­führerin benutzte einen Lautsprecher für die Durchsagen "Bullen raus aus der Versammlung!" und "Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!". Das Urteil des Amtsgerichts, mit dem ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die versammlungs­rechtliche Auflage verhängt wurde, verkennt den Schutzbereich der Versammlungs­freiheit. Dieser umfasst auch die Äußerung des versammlungs­bezogenen Anliegens, dass nur die Versammlung unterstützende Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen sollen.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen Gewerk­schafts­bundes in München mit dem Thema "1. Mai. Tag der Arbeit" teil. Für die Versammlung hatte die zuständige Versamm­lungs­behörde unter anderem die Auflage erlassen, dass Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit dem Versamm­lungsthema stehen, sowie für Ordnungs­durchsagen verwendet werden dürfen. Während des Versamm­lungszuges benutzte die Beschwer­de­führerin an zwei Orten einen Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen: "Bullen raus aus der Versammlung!" und "Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!". Das Amtsgericht verurteilte die Beschwer­de­führerin wegen Verstoßes gegen das Versamm­lungs­gesetz durch Nichtbeachtung beschränkender Auflagen zu einer Geldbuße von 250 Euro. Einen Antrag der Beschwer­de­führerin, die Rechts­be­schwerde zuzulassen, verwarf das Oberlan­des­gericht als unbegründet.

Lautspre­cher­durchsagen waren nicht dem Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit entzogen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass das angegriffene Urteil des Amtsgerichts die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautspre­cher­durchsagen sind nicht wie das Amtsgericht annimmt dem Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit entzogen. Sie standen inhaltlich in hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der Versammlung. Sie mögen zwar keinen spezifischen Bezug zum Versamm­lungsthema aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein. Sie gaben jedoch das versamm­lungs­be­zogene Anliegen kund, dass sich in dem Aufzug nur an ihm teilnehmende Personen befinden sollen, nicht aber auch am Meinungs­bil­dungs­prozess unbeteiligte Polizisten. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen. Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen.

Eingriff in Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit nicht gerechtfertigt

Durch die Sanktionierung der Lautspre­cher­durchsagen mit einem Bußgeld greift die amtsge­richtliche Entscheidung in diesen Schutzbereich ein. Dieser Eingriff ist auf der Grundlage der gerichtlichen Feststellungen nicht gerechtfertigt.

Zwar ist die Versamm­lungs­freiheit nicht unbeschränkt gewährleistet (vgl. Art. 8 Abs. 2 GG). Bei der angewandten Bußgeld­vor­schrift des § 29 Versamm­lungs­gesetz handelt es sich um ein solches beschränkendes Gesetz, dessen Auslegung und Anwendung grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist. Allerdings haben die staatlichen Organe und damit auch die Strafgerichte die grund­rechts­be­schrän­kenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist.

Entscheidung des Amtsgerichts verkennt Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit

Diesem Maßstab wird die amtsge­richtliche Verurteilung der Beschwer­de­führerin zu einem Bußgeld nicht gerecht. Aufgrund des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG durfte sich das Gericht nicht uneingeschränkt auf die Auflage der Versamm­lungs­behörde berufen. Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfas­sungsgemäß ansehen, wenn es sie einer Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit Versamm­lungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berück­sich­tigung des Schutzgehaltes der Versamm­lungs­freiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene Entscheidung die in Frage stehenden versamm­lungs­be­zogenen Äußerungen unabhängig von jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der Lautspre­cher­anlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die Lautspre­cher­durchsagen der Beschwer­de­führerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Auch eine mögliche Beein­träch­tigung der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar, dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwer­de­führerin zu einem Bußgeld rechtfertigten.

BVerfG weis Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das Amtsgericht

Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei einer erneuten Befassung unter Beachtung der grund­recht­lichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis kommen wird. Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben, die Sache ist an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurück­zu­ver­weisen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss18624

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI