21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.06.2014

Protest­veranstaltung auf einem Friedhof kann von der Versammlungs­freiheit geschützt seinEntscheidung des Amtsgerichts verneint Versammlungs­charakter der Zusammenkunft mit verfassungsr­echtlich nicht tragfähigen Gründen

Das Bundes­verfassungs­gerichts einer Verfassungs­beschwerde stattgegeben, die sich gegen die Verurteilung des Beschwer­de­führers zu einem Bußgeld wegen Verstoßes gegen eine Fried­hofs­satzung und Belästigung der Allgemeinheit richtete. Der Beschwer­de­führer hatte während einer Gedenk­ver­an­staltung auf einem Friedhof ein Transparent enthüllt, um gegen deren Zielrichtung zu protestieren. Die Entscheidung des Amtsgerichts verkennt den Schutzbereich der Versammlungs­freiheit; insbesondere berücksichtigt sie nicht, dass dieser nicht von einer Anmeldung oder Genehmigung der Versammlung abhängig ist und dass auf dem Friedhof wegen der Gedenk­ver­an­staltung zu dieser Zeit ein über privates Gedenken hinausgehender kommunikativer Verkehr eröffnet war. Zudem fehlt es an der verfassungsr­echtlich notwendigen Abwägung, ob eine Verurteilung des Beschwer­de­führers mit Blick auf die Versammlungs­freiheit gerechtfertigt ist.

Am 13. Februar 2012 veranstaltete die Stadt Dresden eine Gedenk­ver­an­staltung auf dem Gelände des Heidefriedhofs zur Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie die Opfer des Alliierten Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945. Die Beteiligung an dem Gedenkzug stand der gesamten Bevölkerung offen. Der Beschwer­de­führer erhob - mit drei weiteren Personen etwa fünfzig Meter vor der Gedenkmauer postiert - entlang des Hauptweges des Gedenkzuges ein Transparent mit dem Schriftzug: "Es gibt nichts zu trauern - nur zu verhindern. Nie wieder Volks­ge­mein­schaft - destroy the spirit of Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden. Antifa­schis­tische Aktion". Mit dem Transparent wollte der Beschwer­de­führer bekunden, dass er mit der Zielrichtung des Gedenkganges nicht einverstanden sei und gegen diesen ein Zeichen setzen. Das Transparent war für den vorbeiziehenden Trauerzug wenige Minuten sichtbar, bevor anwesende Polizeibeamte den Beschwer­de­führer dazu bewegten, das Transparent wieder einzurollen. Die Gedenk­ver­an­staltung auf dem Heidefriedhof konnte anschließend wie geplant durchgeführt werden.

Beschwer­de­führer wendet sich gegen Verurteilung zur Geldbuße

Der Beschwer­de­führer wendet sich gegen seine Verurteilung zu einer Geldbuße von 150 Euro wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen die Fried­hofs­satzung und vorsätzlicher Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 Abs. 1 des Ordnungs­wid­rig­kei­ten­ge­setzes (OWiG). Einen Bußgeldbescheid der Stadt Dresden bestätigte das Amtsgericht mit Urteil vom 9. November 2012; die Rechts­be­schwerde des Beschwer­de­führers blieb vor dem Oberlan­des­gericht ohne Erfolg.

Zusammenkunft und Entrollen des Transparents stehen unter dem Schutz der Versamm­lungs­freiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Zusammenkunft auf dem Heidefriedhof und das Entrollen des Transparents unter den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG fallen. Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemein­schaft­lichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und umfasst auch provokative Äußerungen. Die Versamm­lungs­freiheit verschafft damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten; sie verbürgt die Durchführungen von Versammlungen dort, wo ein kommunikativer Verkehr eröffnet ist. Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmel­de­pflichtig und dementsprechend angemeldet ist. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung.

Äußerungen auf Transparent sind Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung

Nach diesen Kriterien hat der Beschwer­de­führer an einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG teilgenommen. Die Zusammenkunft hatte den Zweck, gegen das Gedenken Stellung zu nehmen und mit einem Transparent gemeinsam Position gegen die Gedenk­ver­an­staltung zu beziehen; hierbei handelte es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. In der vorliegenden Situation war auf dem Friedhof ein kommunikativer Verkehr eröffnet. Der Gedenkzug diente - über ein privates Gedenken hinaus - auch dazu "ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt zu setzen" und nutzte so den Friedhof am 13. Februar 2012 zu einer Ausein­an­der­setzung mit gesell­schaftlich bedeutsamen Themen. Daher kann sich der Beschwer­de­führer jedenfalls an diesem Tage für seine Zusammenkunft auf den Schutz der Versamm­lungs­freiheit berufen, zumal sein Protest konkret auf das Anliegen des Gedenkzuges bezogen ist.

Entscheidung des Amtsgerichts verkennt Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit

Die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts verkennt den Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit; weiter fehlt es an einer verfas­sungs­rechtlich notwendigen Abwägung in der Sache. Das Amtsgericht hat den Versamm­lung­s­cha­rakter der Zusammenkunft mit verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint. Das Amtsgericht geht davon aus, dass es deswegen an einer Versammlung fehle, weil diese nicht entsprechend der Fried­hofs­satzung angemeldet worden war. Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG hängt jedoch nicht von einer Genehmigung oder Anmeldung ab. Selbst wenn man in der Aufforderung durch die Polizisten, das Transparent einzurollen, eine Versamm­lungs­auf­lösung sehen möchte, knüpft die Verurteilung des Beschwer­de­führers doch an sein vorheriges Verhalten an. Der Schutz durch die Versamm­lungs­freiheit entfällt nur ab dem Zeitpunkt der Auflösung.

Amtsgericht hätte bei Entschei­dungs­findung die Versamm­lungs­freiheit des Beschwer­de­führers miteinbeziehen müssen

Es fehlt auch an einer hinreichenden Abwägung, ob die Verurteilung des Beschwer­de­führers mit Blick auf die Versamm­lungs­freiheit gerechtfertigt ist. Für den in § 118 Abs. 1 OWiG verwendeten Begriff der öffentlichen Ordnung ist kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird. Bei der Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes hätte das Amtsgericht daher die Versamm­lungs­freiheit des Beschwer­de­führers in seine Entschei­dungs­findung miteinbeziehen müssen. Es hätte einer Ausein­an­der­setzung damit bedurft, warum die Ausübung des Versamm­lungs­grund­rechts der öffentlichen Ordnung widerspricht, während auf dem Heidefriedhof zur gleichen Zeit eine große Gedenk­ver­an­staltung, zu der öffentlich aufgerufen wurde und die über das Gedenken hinaus ein „Zeichen“ setzen wollte, stattfindet und sich der Beschwer­de­führer gezielt im Wege stillen Protests gegen diese wendet. Auf die Frage, ob § 118 OWiG von Verfassungs wegen überhaupt ein Verhalten sanktionieren kann, welches dem Schutzbereich der Versamm­lungs­freiheit unterfällt oder ob die Vorschrift sonst verfas­sungs­recht­lichen Bedenken unterliegt, kommt es damit nicht an.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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