21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.12.2010

BVerfG zu den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an den Versamm­lung­s­cha­rakter einer ZusammenkunftEventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldung führt nicht zum Wegfall des Grund­rechts­schutzes der Zusammenkunft

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat sich mit den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die fachge­richtliche Prüfung des Versamm­lung­s­cha­rakters einer Zusammenkunft befasst und entschieden, dass auch durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geäußert werden kann. Auch einer nicht angemeldeten Zusammenkunft kann dadurch der Schutz des Grundrechts auf Versamm­lungs­freiheit zukommen.

Am 14. August 2004 fand in der Kleinstadt F. in Brandenburg die angemeldete Demonstration unter freiem Himmel mit dem Motto „Keine schweigenden Provinzen - Linke Freiräume schaffen“ statt. Anlässlich dieser Versammlung begab sich der Beschwer­de­führer zusammen mit etwa vierzig anderen Personen nach F. Die Gruppe, deren Mitglieder überwiegend kurz geschorenes Haar und für die rechte Szene typische Bekleidung trugen, postierte sich entlang der Route der angemeldeten Demonstration. Über Plakate, Flugblätter oder sonstige Hilfsmittel der Kommunikation verfügte sie nicht. Nachdem der Einsatzleiter der Polizeikräfte dreimal einen Platzverweis gegen die Gruppe ausgesprochen hatte, verließ diese den Ort.

AG verurteilt Beschwer­de­führer wegen fahrlässiger Teilnahme an unerlaubter Ansammlung

Im Nachhinein verurteilte das Amtsgericht den Beschwer­de­führer wegen fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung gemäß § 113 des Ordnungs­wid­rig­kei­ten­ge­setzes (OWiG) in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 des Branden­bur­gischen Polizeigesetzes (BbgPolG) zu einer Geldbuße.

Zusammenkunft rechter Gruppe wurde ohne behördliche Information abgehalten

Der Gruppe sei es darum gegangen, gegenüber den Teilnehmern der linken Demonstration „Gesicht zu zeigen“. Der Einsatzleiter der Polizeikräfte habe aufgrund des äußeren Erschei­nungs­bildes befürchtet, es werde zwischen den Teilnehmern der angemeldeten linken Demonstration und den Mitgliedern der rechten Gruppe zu gewalttätigen Ausein­an­der­set­zungen kommen. Hierbei habe er berücksichtigt, dass die linke Demonstration angemeldet gewesen sei, wohingegen die Zusammenkunft der rechten Gruppe ohne behördliche Information abgehalten worden sei.

Versamm­lungs­rechtliche Auflösung vor Erlass des polizei­recht­lichen Platzverweises war nicht erforderlich

Nach der Auffassung des Amtsgerichts sei eine versamm­lungs­rechtliche Auflösung vor Erlass des polizei­recht­lichen Platzverweises nicht erforderlich gewesen, weil es sich bei der Zusammenkunft nicht um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, sondern lediglich um eine Ansammlung nach § 113 Abs. 1 OWiG gehandelt habe. Die Zusammenkunft habe nicht der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gedient, sondern nur den Zweck verfolgt, die Teilnehmer der linken Demonstration durch bloße Anwesenheit zu provozieren. Die gegen das Urteil des Amtsgerichts erhobene Rechts­be­schwerde vor dem Oberlan­des­gericht blieb ohne Erfolg.

Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.

BVerfG: Urteil des Amtsgerichts verletzt Beschwer­de­führer in Recht auf Versamm­lungs­freiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben, weil es den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Versamm­lungs­freiheit verletzt, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts wurde damit gegenstandslos.

Versamm­lung­s­cha­rakter der Zusammenkunft durch AG nicht mit verfas­sungs­rechtlich tragfähigen Gründen verneint

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das Amtsgericht hat - auf der Grundlage der getroffenen tatsächlichen Feststellungen - den Versamm­lung­s­cha­rakter der Zusammenkunft, an welcher der Beschwer­de­führer teilgenommen hat, mit verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint.

Zusammenkunft war inhaltlich auf Versamm­lungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen

Das Amtsgericht hat bei der Prüfung des Versamm­lung­s­cha­rakters der Zusammenkunft nicht berücksichtigt, dass diese inhaltlich auf das Versamm­lungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen war. Der Beschwer­de­führer und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts mit der Zusammenkunft „Gesicht zeigen“ und sich gegen die Aussage des von der angemeldeten Demonstration ausgerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der von auswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort war erkennbar geprägt von dem Willen der Ausein­an­der­setzung mit dem politischen Gegner. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die aufgrund der kurz geschorenen Haare und der szenetypischen Aufmachung vom objektiven Empfän­ger­ho­rizont aus betrachtet als dem rechtsradikalen Spektrum angehörend identifizierbar war und als solche von den Polizeikräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtlicher Nähe zu der ausdrücklich links­ge­richteten Versammlung postierte - der zweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräume schaffen“ -, nämlich an einer Straße entlang der Demon­s­tra­ti­o­nsroute kurz bevor sich die angemeldete Demonstration in Bewegung setzte.

Kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch durch schlüssiges Verhalten der Versamm­lungs­teil­nehmer erfolgen

Die Versagung der Versamm­lungs­ei­gen­schaft kann das Amtsgericht verfas­sungs­rechtlich nicht darauf stützen, dass nach dem Willen der Gruppe weder mit den Teilnehmern der angemeldeten Demonstration noch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden sollte. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Überdies lautete der erste Teil des Mottos der angemeldeten Demonstration „Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts dieser Umstände hätte das Amtsgericht sich damit ausein­an­der­setzen müssen, dass der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe hier nahelie­gen­derweise eine eigenständige Aussage zukommen kann.

Kollektive Unfriedlichkeit der Zusammenkunft nicht durch AG festgestellt

Verfas­sungs­rechtlich tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die - folglich auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen als Gegen­de­mon­s­tration einzustufende - Zusammenkunft des Schutzes des Art. 8 GG wieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung des Amtsgerichts nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt eine eventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldung nicht den Grund­rechts­schutz der Zusammenkunft entfallen. Feststellungen zu einer kollektiven Unfriedlichkeit der Zusammenkunft hat das Amtsgericht nicht getroffen.

Eingriff in Versamm­lungs­freiheit verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt

Hiervon ausgehend ist das Urteil des Amtsgerichts als Eingriff in die Versamm­lungs­freiheit des Beschwer­de­führers zu beurteilen, der verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt ist, da in diesem Fall die Verurteilung nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 BbgPolG gestützt werden kann. Versamm­lungs­spe­zi­fische Maßnahmen der Gefahrenabwehr richten sich nach den hierfür speziell erlassenen Versamm­lungs­ge­setzen. Die dort geregelten, im Vergleich zu dem allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Verfügungen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versamm­lungs­freiheit. Dementsprechend gehen die Versamm­lungs­gesetze als Spezialgesetze dem allgemeinen Polizeirecht vor. Daraus folgt, dass auf das allgemeine Polizeirecht gestützte Maßnahmen gegen eine Person, insbesondere in Form eines Platzverweises, ausscheiden, solange sich diese in einer Versammlung befindet und sich auf die Versamm­lungs­freiheit berufen kann. Da den Feststellungen des Amtsgericht nicht zu entnehmen ist, dass die - auf dieser Grundlage als Gegen­de­mon­s­tration einzustufende - Zusammenkunft aufgelöst oder der Beschwer­de­führer von ihr ausgeschlossen worden war, kann die Verhängung des Bußgeldes gegen den Beschwer­de­führer nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 BbgPolG gestützt werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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