Dokument-Nr. 10865
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.12.2010
BVerfG zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Versammlungscharakter einer ZusammenkunftEventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldung führt nicht zum Wegfall des Grundrechtsschutzes der Zusammenkunft
Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Prüfung des Versammlungscharakters einer Zusammenkunft befasst und entschieden, dass auch durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung geäußert werden kann. Auch einer nicht angemeldeten Zusammenkunft kann dadurch der Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit zukommen.
Am 14. August 2004 fand in der Kleinstadt F. in Brandenburg die angemeldete Demonstration unter freiem Himmel mit dem Motto „Keine schweigenden Provinzen - Linke Freiräume schaffen“ statt. Anlässlich dieser Versammlung begab sich der Beschwerdeführer zusammen mit etwa vierzig anderen Personen nach F. Die Gruppe, deren Mitglieder überwiegend kurz geschorenes Haar und für die rechte Szene typische Bekleidung trugen, postierte sich entlang der Route der angemeldeten Demonstration. Über Plakate, Flugblätter oder sonstige Hilfsmittel der Kommunikation verfügte sie nicht. Nachdem der Einsatzleiter der Polizeikräfte dreimal einen Platzverweis gegen die Gruppe ausgesprochen hatte, verließ diese den Ort.
AG verurteilt Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Teilnahme an unerlaubter Ansammlung
Im Nachhinein verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung gemäß § 113 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 des Brandenburgischen Polizeigesetzes (BbgPolG) zu einer Geldbuße.
Zusammenkunft rechter Gruppe wurde ohne behördliche Information abgehalten
Der Gruppe sei es darum gegangen, gegenüber den Teilnehmern der linken Demonstration „Gesicht zu zeigen“. Der Einsatzleiter der Polizeikräfte habe aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes befürchtet, es werde zwischen den Teilnehmern der angemeldeten linken Demonstration und den Mitgliedern der rechten Gruppe zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen. Hierbei habe er berücksichtigt, dass die linke Demonstration angemeldet gewesen sei, wohingegen die Zusammenkunft der rechten Gruppe ohne behördliche Information abgehalten worden sei.
Versammlungsrechtliche Auflösung vor Erlass des polizeirechtlichen Platzverweises war nicht erforderlich
Nach der Auffassung des Amtsgerichts sei eine versammlungsrechtliche Auflösung vor Erlass des polizeirechtlichen Platzverweises nicht erforderlich gewesen, weil es sich bei der Zusammenkunft nicht um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, sondern lediglich um eine Ansammlung nach § 113 Abs. 1 OWiG gehandelt habe. Die Zusammenkunft habe nicht der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gedient, sondern nur den Zweck verfolgt, die Teilnehmer der linken Demonstration durch bloße Anwesenheit zu provozieren. Die gegen das Urteil des Amtsgerichts erhobene Rechtsbeschwerde vor dem Oberlandesgericht blieb ohne Erfolg.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
BVerfG: Urteil des Amtsgerichts verletzt Beschwerdeführer in Recht auf Versammlungsfreiheit
Das Bundesverfassungsgericht hat das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben, weil es den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wurde damit gegenstandslos.
Versammlungscharakter der Zusammenkunft durch AG nicht mit verfassungsrechtlich tragfähigen Gründen verneint
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das Amtsgericht hat - auf der Grundlage der getroffenen tatsächlichen Feststellungen - den Versammlungscharakter der Zusammenkunft, an welcher der Beschwerdeführer teilgenommen hat, mit verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint.
Zusammenkunft war inhaltlich auf Versammlungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen
Das Amtsgericht hat bei der Prüfung des Versammlungscharakters der Zusammenkunft nicht berücksichtigt, dass diese inhaltlich auf das Versammlungsmotto der angemeldeten Demonstration bezogen war. Der Beschwerdeführer und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts mit der Zusammenkunft „Gesicht zeigen“ und sich gegen die Aussage des von der angemeldeten Demonstration ausgerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der von auswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort war erkennbar geprägt von dem Willen der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die aufgrund der kurz geschorenen Haare und der szenetypischen Aufmachung vom objektiven Empfängerhorizont aus betrachtet als dem rechtsradikalen Spektrum angehörend identifizierbar war und als solche von den Polizeikräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtlicher Nähe zu der ausdrücklich linksgerichteten Versammlung postierte - der zweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräume schaffen“ -, nämlich an einer Straße entlang der Demonstrationsroute kurz bevor sich die angemeldete Demonstration in Bewegung setzte.
Kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch durch schlüssiges Verhalten der Versammlungsteilnehmer erfolgen
Die Versagung der Versammlungseigenschaft kann das Amtsgericht verfassungsrechtlich nicht darauf stützen, dass nach dem Willen der Gruppe weder mit den Teilnehmern der angemeldeten Demonstration noch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikation stattfinden sollte. Ein kollektiver Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung kann auch durch schlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einen Schweigemarsch, geäußert werden. Überdies lautete der erste Teil des Mottos der angemeldeten Demonstration „Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts dieser Umstände hätte das Amtsgericht sich damit auseinandersetzen müssen, dass der physischen Präsenz in einer die gegenteilige politische Ausrichtung zu erkennen gebenden Aufmachung gepaart mit dem Schweigen der Gruppe hier naheliegenderweise eine eigenständige Aussage zukommen kann.
Kollektive Unfriedlichkeit der Zusammenkunft nicht durch AG festgestellt
Verfassungsrechtlich tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die - folglich auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen als Gegendemonstration einzustufende - Zusammenkunft des Schutzes des Art. 8 GG wieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung des Amtsgerichts nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt eine eventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldung nicht den Grundrechtsschutz der Zusammenkunft entfallen. Feststellungen zu einer kollektiven Unfriedlichkeit der Zusammenkunft hat das Amtsgericht nicht getroffen.
Eingriff in Versammlungsfreiheit verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt
Hiervon ausgehend ist das Urteil des Amtsgerichts als Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers zu beurteilen, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist, da in diesem Fall die Verurteilung nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 BbgPolG gestützt werden kann. Versammlungsspezifische Maßnahmen der Gefahrenabwehr richten sich nach den hierfür speziell erlassenen Versammlungsgesetzen. Die dort geregelten, im Vergleich zu dem allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Verfügungen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend gehen die Versammlungsgesetze als Spezialgesetze dem allgemeinen Polizeirecht vor. Daraus folgt, dass auf das allgemeine Polizeirecht gestützte Maßnahmen gegen eine Person, insbesondere in Form eines Platzverweises, ausscheiden, solange sich diese in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann. Da den Feststellungen des Amtsgericht nicht zu entnehmen ist, dass die - auf dieser Grundlage als Gegendemonstration einzustufende - Zusammenkunft aufgelöst oder der Beschwerdeführer von ihr ausgeschlossen worden war, kann die Verhängung des Bußgeldes gegen den Beschwerdeführer nicht auf § 113 OWiG in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Satz 1 BbgPolG gestützt werden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 13.01.2011
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online
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