18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.10.2017

"Männlich" oder "weiblich" nicht ausreichend: Gesetzgeber muss bis Ende 2018 weiteren positiven Geschlecht­s­eintrag für Perso­nen­standsrecht schaffenGeltendes Perso­nen­standsrecht verstößt gegen Diskri­mi­nierungs­verbot

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Regelungen des Personenstands­rechts mit den grund­ge­setz­lichen Anforderungen insoweit nicht vereinbar sind, als § 22 Abs. 3 Personenstands­gesetz (PStG) neben dem Eintrag "weiblich" oder "männlich" keine dritte Möglichkeit bietet, ein Geschlecht positiv eintragen zu lassen. Das allgemeine Persönlichkeits­recht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Darüber hinaus verstößt das geltende Perso­nen­standsrecht auch gegen das Diskri­mi­nierungs­verbot (Art. 3 Abs. 3 GG), soweit die Eintragung eines anderen Geschlechts als "männlich" oder "weiblich" ausgeschlossen wird. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2018 eine Neuregelung zu schaffen. Gerichte und Verwal­tungs­be­hörden dürfen die betreffenden Normen nicht mehr anwenden, soweit sie für Personen, deren Geschlechts­entwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechts­entwicklung Varianten aufweist und die sich deswegen dauerhaft weder dem männlichen, noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts begründen.

Die beschwer­de­führende Person beantragte beim zuständigen Standesamt die Berichtigung ihres Geburtseintrags dahingehend, dass die bisherige Geschlechts­angabe "weiblich" gestrichen und die Angabe "inter/divers", hilfsweise nur "divers" eingetragen werden solle. Das Standesamt lehnte den Antrag mit Hinweis darauf ab, dass nach deutschem Perso­nen­standsrecht im Geburtenregister ein Kind entweder dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zuzuordnen ist, oder - wenn dies nicht möglich ist - das Geschlecht nicht eingetragen wird (§ 21 Abs. 1 Nr. 3, § 22 Abs. 3 PStG). Der daraufhin beim zuständigen Amtsgericht gestellte Berich­ti­gungs­antrag wurde zurückgewiesen; die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde rügt die beschwer­de­führende Person insbesondere eine Verletzung ihres allgemeinen Persön­lich­keits­rechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG).

Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für individuelle Identität herausragende Bedeutung zu

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass das allgemeine Persön­lich­keitsrecht auch die geschlechtliche Identität schützt, die regelmäßig ein konsti­tu­ie­render Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist. Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüs­sel­po­sition sowohl im Selbst­ver­ständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird. Dabei ist auch die geschlechtliche Identität jener Personen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.

Perso­nen­standsrecht greift in Persön­lich­keitsrecht ein

In dieses Recht wird nach geltendem Perso­nen­standsrecht eingegriffen. Das Perso­nen­standsrecht verlangt einen Geschlecht­s­eintrag, ermöglicht jedoch der beschwer­de­füh­renden Person, die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnet, keinen Eintrag, der ihrer Geschlecht­s­i­dentität entspräche. Auch durch die Wahl der gesetzlichen Variante "fehlende Angabe" würde nicht abgebildet, dass die beschwer­de­führende Person sich nicht als geschlechtslos begreift, und nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich hat.

Gefährdung der Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit

Hierdurch ist die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit spezifisch gefährdet. Der Personenstand ist keine Marginalie, sondern ist nach dem Gesetz die "Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung". Der Personenstand umschreibt in zentralen Punkten die rechtlich relevante Identität einer Person. Die Verwehrung der perso­nen­stands­recht­lichen Anerkennung der geschlecht­lichen Identität gefährdet darum bereits für sich genommen die selbstbestimmte Entwicklung.

Grundgesetz gebietet nicht ausschließlich binäre Regelung des Geschlechts

Der Grund­recht­s­eingriff ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln. Es zwingt weder dazu, das Geschlecht als Teil des Personenstandes zu normieren, noch steht es der perso­nen­stands­recht­lichen Anerkennung einer weiteren geschlecht­lichen Identität jenseits des weiblichen und männlichen Geschlechts entgegen.

Verwehrung weiterer einheitlicher positiver Eintra­gungs­mög­lichkeit kann nicht mit bürokratischem und finanziellen Aufwand gerechtfertigt werden

Dass im geltenden Perso­nen­standsrecht keine Möglichkeit besteht, ein drittes Geschlecht positiv eintragen zu lassen, lässt sich nicht mit Belangen Dritter rechtfertigen. Durch die bloße Eröffnung der Möglichkeit eines weiteren Geschlecht­s­eintrags wird niemand gezwungen, sich diesem weiteren Geschlecht zuzuordnen. Allerdings müssen in einem Regelungssystem, das Geschlechts­angaben vorsieht, die derzeit bestehenden Möglichkeiten für Personen mit Varianten der Geschlecht­s­ent­wicklung, sich als weiblich, männlich oder ohne Geschlecht­s­eintrag registrieren zu lassen, erhalten bleiben. Auch bürokratischer und finanzieller Aufwand oder Ordnungs­in­teressen des Staates vermögen die Verwehrung einer weiteren einheitlichen positiven Eintra­gungs­mög­lichkeit nicht zu rechtfertigen. Ein gewisser Mehraufwand wäre hinzunehmen. Ein Anspruch auf perso­nen­stands­recht­licher Eintragung beliebiger Identi­täts­merkmale, die einen Bezug zum Geschlecht haben, ergibt sich aus dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht hingegen nicht. Durch die Ermöglichung des positiven Eintrags eines weiteren Geschlechts unter einer einheitlichen dritten Bezeichnung entstehen auch keine Zuord­nungs­probleme, die sich nach geltendem Recht nicht ohnehin schon stellen. Denn im Falle der Ermöglichung eines weiteren positiven Geschlecht­s­eintrags sind die gleichen Fragen zu klären, die sich bei der nach derzeitiger Rechtslage möglichen Nichteintragung des Geschlechts stellen.

Geschlecht darf nicht als Anknüp­fungspunkt für rechtliche Ungleich­be­handlung herangezogen werden

Darüber hinaus verstößt § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Danach darf das Geschlecht grundsätzlich nicht als Anknüp­fungspunkt für eine rechtliche Ungleich­be­handlung herangezogen werden. Dabei schützt Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch Menschen vor Diskri­mi­nie­rungen, die sich nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen. Denn Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskri­mi­nie­rungs­ge­fährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen. § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG benachteiligt aber Menschen, die nicht männlichen oder weiblichen Geschlechts sind, wegen ihres Geschlechts, weil diese im Gegensatz zu Männern und Frauen nicht ihrem Geschlecht gemäß registriert werden können.

Gesetzgeber stehen mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfas­sungs­verstöße zur Verfügung

Die Verfas­sungs­verstöße führen zur Feststellung der Unvereinbarkeit von § 21 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG mit dem Grundgesetz, weil dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Verfas­sungs­verstöße zu beseitigen. So könnte der Gesetzgeber auf einen perso­nen­stands­recht­lichen Geschlecht­s­eintrag generell verzichten. Er kann aber stattdessen auch für die betroffenen Personen die Möglichkeit schaffen, eine weitere positive Bezeichnung eines Geschlechts zu wählen, das nicht männlich oder weiblich ist. Dabei ist der Gesetzgeber nicht auf die Wahl einer der von der antrag­stel­lenden Person im fachge­richt­lichen Verfahren verfolgten Bezeichnungen beschränkt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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