23.11.2024
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Dokument-Nr. 5916

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Bundesverfassungsgericht Urteil14.07.1998

Erfolglose Verfas­sungs­be­schwerde gegen "Recht­schrei­b­reform"

Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, Regelungen über die richtige Schreibung der deutschen Sprache für den Unterricht in den Schulen zu treffen. Entsprechende Regelungen fallen in die Zuständigkeit der Länder. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden. Für die Einführung der "Recht­schrei­b­reform" in Schleswig-Holstein bedurfte es keiner über die allgemeinen Lernziel­be­stim­mungen des Landes­schul­ge­setzes hinausgehenden gesetzlichen Grundlage. Grundrechte von Eltern und Schülern werden durch diese Neuregelung nicht verletzt.

Über die Verfas­sungs­be­schwerde ist trotz der Rücknahme zu entscheiden. Denn die Rücknahme ist unwirksam.

Jedenfalls dann, wenn die gegen eine Entscheidung im einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahren erhobene Verfas­sungs­be­schwerde wegen allgemeiner Bedeutung (§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) zur Entscheidung angenommen, wenn deswegen über sie mündlich verhandelt worden ist und wenn die allgemeine Bedeutung auch in der Zeit bis zur Urteils­ver­kündung nicht entfallen ist, liegt die Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens nicht mehr in der alleinigen Dispo­si­ti­o­ns­be­fugnis des Beschwer­de­führers. In einem solchen Fall steht die Funktion der Verfas­sungs­be­schwerde, das objektive Verfas­sungsrecht zu wahren, gegenüber dem Interesse des Beschwer­de­führers an verfas­sungs­ge­richt­lichem Indivi­du­a­l­rechts­schutz derart im Vordergrund, daß es geboten ist, im öffentlichen Interesse trotz der Rücknahme der Verfas­sungs­be­schwerde zur Sache zu entscheiden und den Ausgang des Verfahrens nicht von Verfah­rens­hand­lungen des Beschwer­de­führers abhängig zu machen.

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Senat hat, als er Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt hat - in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Beschwer­de­führers -, die allgemeine Bedeutung der Verfas­sungs­be­schwerde bejaht, weil diese grundsätzliche verfas­sungs­rechtliche Fragen aufwirft und die erstrebte Entscheidung Klarheit über die Rechtslage schaffen wird. An dieser Einschätzung hat sich seitdem ersichtlich nichts geändert.

Elterliches Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG)

Die angegriffenen Beschlüsse des Schleswig-Holsteinischen Verwal­tungs­ge­richts vom 12. März 1997 und des Schleswig-Holsteinischen Oberver­wal­tungs­ge­richts vom 13. August 1997 verstoßen nicht gegen das Grundrecht der Beschwer­de­führer aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.

Die Vorschrift lautet: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."

Dem elterlichen Erziehungsrecht steht im Bereich der Schule der Erzie­hungs­an­spruch des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG ("Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates") gleich­be­rechtigt gegenüber. Der Staat muß jedoch in diesem Bereich die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erzie­hungs­fragen so weit offen sein, wie es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt.

Gemessen daran wird das elterliche Erziehungsrecht der Beschwer­de­führer nicht verletzt. a) Notwendigkeit und Inhalt, Güte und Nutzen der Rechtschreibreform können nicht nach verfas­sungs­recht­lichen Maßstäben beurteilt werden. Das GG enthält keine Vorschriften über die sprach­wis­sen­schaftlich richtige Schreibung und die korrekte Gliederung geschriebener Texte durch Satzzeichen.

b) Das GG enthält zudem kein Verbot, die Rechtschreibung zum Gegenstand staatlicher Regelung zu machen. Ein solches Verbot vermag auch die Annahme nicht zu begründen, die Sprache "gehöre" dem Volk. Daß ein Gegenstand dem Staat nicht "gehört", hindert diesen nicht daran, seinen Gebrauch bestimmten Regelungen zu unterwerfen.

Entsprechendes gilt für ein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung. Der Staat ist nicht darauf beschränkt, nur nachzuzeichnen, was in der Schreib­ge­mein­schaft ohne seinen Einfluß im Laufe der Zeit an allgemein anerkannter Schreibung entstanden ist. Regulierende Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung beseitigen oder bestimmte Schreibweisen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt. Für den Bereich der Schulen weist Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat zudem die Befugnis zu, Bestimmungen über Art und Inhalt des Schul­un­ter­richts zu treffen. Das gilt auch für die deutsche Rechtschreibung. Lehrer wie Schüler benötigen möglichst sichere, verbindliche, aber auch verständliche Grundlagen für richtiges Lehren und Lernen der deutschen Schreibung sowie zuverlässige Maßstäbe für die Benotung der insbesondere im Recht­schrei­b­un­terricht geforderten schulischen Leistungen.

Der Senat führt aus, daß mit Rücksicht darauf Regelungen über die richtige Schreibung in der deutschen Ortho­gra­phie­ge­schichte zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer auch eine Sache von Staat und Schule waren.

c) Derartige Regelungen dürfen von den Ländern getroffen werden.

Sowohl der Beschluß der Kultus­mi­nis­ter­kon­ferenz vom 30. November/1. Dezember 1995 als auch der Erlaß des Kultus­mi­nis­teriums des Landes Schleswig-Holstein vom 5. November 1996 beziehen sich auf das Schulwesen, das nach dem GG der ausschließ­lichen Zuständigkeit der Länder zugewiesen ist.

Einer Regelungs­be­fugnis der Länder steht auch nicht entgegen, daß Schreibung als Kommu­ni­ka­ti­o­ns­mittel im gesamten Sprachraum ein hohes Maß an Einheitlichkeit voraussetzt, wenn die grundrechtlich verbürgte Kommu­ni­ka­ti­o­ns­mög­lichkeit erhalten bleiben soll. Den Ländern ist die Herstellung von Einheitlichkeit verfas­sungs­rechtlich im Wege der Selbst­ko­or­di­nierung, durch Abstimmung mit dem Bund und durch Absprachen mit auswärtigen Staaten des deutschen Sprachraums möglich. Bei der Recht­schrei­b­reform sind die Länder diesen Weg auch tatsächlich gegangen.

Daß der Bund die Übernahme der Recht­schrei­b­reform in die Amts- und Justizsprache des Bundes vorerst ausgesetzt hat und Niedersachsen die neuen Recht­schrei­b­regeln an seinen Schulen derzeit nicht anwendet, stellt das damit erzielte Einvernehmen nicht grundsätzlich in Frage. Das Erfordernis eines hohen Maßes an einheitlicher Schreibung bedeutet nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten. Deshalb hat das Ausscheren eines Beteiligten aus dem Kreis derer, die sich zuvor auf gemeinsame Regeln und Schreibweisen geeinigt haben, verfas­sungs­rechtlich nicht notwendig die Unzulässigkeit der Neuregelung zur Folge, wenn Kommunikation im gemeinsamen Sprachraum trotzdem weiterhin stattfinden kann.

d) Es ist auch verfas­sungs­rechtlich unbedenklich, das Schulrecht des Landes Schleswig-Holstein als ausreichende Grundlage für die Umsetzung der Recht­schrei­b­reform an den Schulen des Landes anzusehen.

Einer besonderen gesetzlichen Regelung bedurfte es nicht. Zwar verlangt der Grundsatz des "Vorbehalts des Gesetzes", daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen.

aa) Die Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern nach der reformierten Rechtschreibung ist jedoch für die Ausübung des Elternrechts nicht von wesentlicher Bedeutung. Zwar gehört zum Erziehungsrecht der Eltern auch das Recht, die Sprachkompetenz ihrer Kinder zu fördern, ihnen die Kenntnis der Recht­schrei­b­regeln zu vermitteln und sie zu schriftlicher Kommunikation zu befähigen. Zumindest seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht sind jedoch Recht­schrei­b­un­terricht und die Bestimmung seiner Grundlagen vornehmlich eine Aufgabe von Staat und Schule; die Eltern werden bei der Vermittlung richtigen Schreibens, wenn überhaupt, nur begleitend und unterstützend tätig. Daß Recht­schrei­b­un­terricht den Erziehungsplan der Eltern ernsthaft beeinträchtigen könnte, ist nicht ersichtlich.

An dieser Einschätzung ändert es nichts, daß durch die Recht­schrei­b­reform Regeln eingeführt werden, die jedenfalls teilweise auf reformerische Entscheidungen staatlicher Entschei­dungs­träger zurückgehen.

Zu berücksichtigen ist dabei - was auch die Beschwer­de­führer nicht bestreiten -, daß die beabsichtigten Schrei­b­än­de­rungen im Umfang verhältnismäßig gering sind. Quantitativ sind nach der Darstellung der Kultus­mi­nis­ter­kon­ferenz - abgesehen von der Änderung der bisherigen ß-Schreibung - nur etwa ,5 % des Wortschatzes betroffen. Aber auch qualitativ halten sich die Neuregelung und ihre Folgen für die schriftliche Kommunikation in engen Grenzen. Unabhängig von zum Teil in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Erschwernissen, etwa im Bereich der Getrennt- und Zusam­men­schreibung, werden Schriftbild und Lesbarkeit von Texten durch die neuen Regeln jedenfalls nicht in dem Maße beeinträchtigt, daß darunter ernstlich Verständ­lichkeit und Verständigung litten. Schriftliche Kommunikation ist deshalb weiterhin möglich, und zwar auch zwischen "Altschreibern" und "Neuschreibern". In der mündlichen Verhandlung haben das im Grunde auch die Kritiker der Recht­schrei­b­reform nicht bestritten.

Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, daß die Beschwer­de­führer gehindert wären, ihre Kinder, nachdem diese sich die neue Schreibung angeeignet haben, auch mit den traditionellen Schreibweisen vertraut zu machen, ihnen eigene Bücher zum Lesen zu geben und sie an die klassische Literatur in deren ursprünglicher Schreibweise heranzuführen.

Daß die Beschwer­de­führer bei der Hausauf­ga­ben­be­treuung ihrer Kinder nicht mehr allein auf ihr erlerntes Schreibwissen zurückgreifen können, sondern sich auf die neue Rechtschreibung einlassen müssen, berührt ihr Erziehungsrecht angesichts des geringen Umfangs der Reform und ihrer Auswirkungen ebenfalls nicht derart schwer, daß sich daraus die Notwendigkeit einer spezi­al­ge­setz­lichen Fundierung der Recht­schrei­b­reform herleiten ließe. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht erkennbar, inwieweit die elterliche Autorität darunter leiden könnte, daß in der Schule Recht­schrei­b­regeln gelehrt werden, von denen das elterliche Schreib­ver­halten abweicht. Zum einen ist zu berücksichtigen, daß die Verwendung der traditionellen Schreibweisen im Schulunterricht bis mindestens Ende Juli 2005 nicht als Fehler gewertet werden wird. Zum anderen bleibt abzuwarten, inwieweit sich in den kommenden Jahren die neue Schreibweise auch bei den Eltern durchsetzen wird. Außerdem entspricht es allgemeiner Erfahrung, daß Wissen und Können von Eltern im Prozeß der Fortentwicklung und Erneuerung von Unter­richts­ge­gen­ständen und -inhalten häufig nicht mit dem Schritt halten können, was ihren Kindern in der Schule aktuell gelehrt wird. Eine Autori­täts­einbuße der Eltern in der Folge der Recht­schrei­b­reform ist daher bei lebensnaher Betrachtung nicht zu besorgen.

bb) Auch die Grundrechte der Schülerinnen und Schüler zwingen nicht zu einer parla­men­ta­rischen Leitent­scheidung in Form eines gesonderten Gesetzes. Sie haben nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG (Entfal­tungs­freiheit und allgemeines Persön­lich­keitsrecht) zwar ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch im Bereich der Schule und damit Anspruch auf eine Entfaltung ihrer Anlagen und Befähigungen im Rahmen schulischer Ausbildung und Erziehung. Auch können sie insoweit verlangen, daß der Staat bei der Festlegung der Unter­richts­inhalte auf ihr Persön­lich­keitsrecht Rücksicht nimmt. Es kann jedoch dahinstehen, ob diese Rechte durch die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung eingeschränkt werden. Auch wenn man eine solche Grund­rechts­be­schränkung annimmt, war eine über die Vorschriften des Landes­schul­rechts hinausgehende gesetzliche Regelung für die Umsetzung der Recht­schrei­b­reform nicht erforderlich. Wie für das Erziehungsrecht der Eltern gilt auch hier, daß nach den verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandenden Annahmen der Kultus­ver­waltung die Neuregelung auf seiten der Schüler zum erleichterten Lernen der Schriftsprache führen wird, Lesbarkeit und Verständ­lichkeit nach den neuen Regeln geschriebener Texte nicht ernsthaft beeinträchtigt werden und die Kommunikation der nach diesen Regeln ausgebildeten Schüler auch mit solchen Personen möglich bleibt, die weiter die traditionellen Schreibweisen bevorzugen.

cc) Wesentlich im Sinne des "Vorbehalts des Gesetzes" ist die Umsetzung der Recht­schrei­b­reform schließlich auch nicht im Hinblick auf die Grund­rechts­ausübung Dritter. Der Senat führt aus, daß insbesondere die wirtschaft­lichen Folgen der Reform für Verlage und sonstige Wirtschafts­un­ter­nehmen keine spezi­al­ge­setzliche Grundlage für Einführung und Anwendung der neuen Regeln und Schreibweisen erfordern. Durch die Neuregelung wird weder die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG noch die durch Art. 2 Abs. 1 GG geleistete wirtschaftliche Betäti­gungs­freiheit berührt.

Allgemeines Persön­lich­keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)

Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen auch nicht gegen die Grundrechte der Beschwer­de­führer aus Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungs­freiheit) oder Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persön­lich­keitsrecht).

Es kann offenbleiben, ob diese Rechte dem einzelnen einen Anspruch darauf gewähren, weiterhin so schreiben zu dürfen, wie dies bisheriger Übung der Schreib­ge­mein­schaft entspricht. In sie würde jedenfalls durch die Umsetzung der Recht­schrei­b­reform nicht eingegriffen werden. Personen außerhalb des Schulbereichs sind rechtlich an die neuen Regeln nicht gebunden; sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben. Auch durch die faktische Breitenwirkung, die die Reform voraussichtlich entfaltet, werden sie daran nicht gehindert. Dies gilt auch für die Zeit nach Ablauf der bis zum 31. Juli 2005 geltenden Übergangsfrist. Es ist nicht erkennbar, daß ein Festhalten an den überkommenen Schreibweisen für den Schreibenden mit gesell­schaft­lichem Ansehensverlust oder sonstigen Beein­träch­ti­gungen der Persön­lich­keits­ent­faltung verbunden sein könnte. Traditionelle Schreibweisen werden sich noch längere Zeit erhalten und als Schreib­va­rianten neben den reformierten Schreibweisen verwendet werden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 79 des BVerfG vom 14.07.1998

der Leitsatz

1. Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, Regelungen über die richtige Schreibung der deutschen Sprache für den Unterricht in den Schulen zu treffen. Das Grundgesetz enthält auch kein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung.

2. Regelungen über die richtige Schreibung für den Unterricht in den Schulen fallen in die Zuständigkeit der Länder.

3. Für die Einführung der von der Kultus­mi­nis­ter­kon­ferenz am 30. November/1. Dezember 1995 beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung an den Schulen des Landes Schleswig-Holstein bedurfte es keiner besonderen, über die allgemeinen Lernziel­be­stim­mungen des Landes­schul­ge­setzes hinausgehenden gesetzlichen Grundlage.

4. Grundrechte von Eltern und Schülern werden durch diese Neuregelung nicht verletzt.

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