18.10.2024
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Dokument-Nr. 29840

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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.12.2020

Erfolglose Verfassungs­beschwerde eines Landkreises gegen familien­gerichtliche Entscheidungen in einer Sorgerechts­angelegenheitLand­kreis darf mit Verfassungs­beschwerde nicht für Kindesrechte einstehen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat die Verfassungs­beschwerde eines Landkreises nicht zur Entscheidung angenommen, mit der dieser sich gegen familien­gerichtliche Beschlüsse in einem das Sorgerecht für ein 13-jähriges Mädchen betreffenden Verfahren wendete. Der Landkreis, der Träger eines Jugendamtes ist, machte mit der Verfassungs­beschwerde sowohl die Verletzung von Grundrechten des Kindes als auch von eigenen Grundrechten geltend.

Im Zustän­dig­keits­bereich des Landkreises lebt das betroffene, 2007 geborene Mädchen mit seiner allein sorge­be­rech­tigten Mutter. Mit ihrer Tochter zog die Mutter im Jahr 2016 in den Haushalt ihres Lebensgefährten, der im Jahr zuvor wegen Sexual­straftaten zu Lasten von Kindern zu einer Gesamt­frei­heits­strafe, bei Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung, verurteilt worden war. Nachdem das Jugendamt von diesen Umständen erfahren hatte, regte es famili­en­ge­richtliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes an. Im Rahmen des famili­en­ge­richt­lichen Verfahrens entzog das Oberlan­des­gericht zunächst der Mutter unter anderem das Aufent­halts­be­stim­mungsrecht für ihre Tochter.

OLG entzog der Mutter das Sorgerecht nicht

Auf die zugelassene Rechts­be­schwerde der Mutter hob der Bundes­ge­richtshof diese Entscheidung auf und verwies die Sache an das Oberlan­des­gericht zurück. Nach weiterer Sachver­halts­auf­klärung entzog dieses der Mutter das Sorgerecht nicht, sondern gab ihr näher bezeichnete Maßnahmen auf, unter anderem einen Antrag auf Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form der aufsuchenden systemischen Famili­en­be­ratung. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der der Landkreis vor allem auch eine Verletzung des Anspruchs des betroffenen Kindes auf Schutz durch den Staat aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 2 GG rügt.

BVerfG: Voraussetzungen einer ausnahmsweise zulässigen Prozess­stand­schaft hier nicht gegeben

Das BVerfG nahm die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung an. Der Beschwer­de­führer ist nicht berechtigt, Rechte des Kindes im Wege der Prozess­stand­schaft geltend zu machen. Die Voraussetzungen einer lediglich ausnahmsweise zulässigen Prozess­stand­schaft sind vorliegend nicht gegeben. Auf die Verletzung des Anspruchs des Kindes auf Schutz durch den Staat (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) kann sich der Beschwer­de­führer daher mit der Verfas­sungs­be­schwerde nicht berufen. Eine ausdrückliche Regelung über die Prozess­stand­schaft im Verfahren der Verfas­sungs­be­schwerde besteht nicht. Grundsätzlich sind mit der Verfas­sungs­be­schwerde eigene Rechte in eigenem Namen geltend zu machen; eine Prozess­stand­schaft ist daher regelmäßig unzulässig. Allerdings erkennt das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in Ausnahmefällen, wie beispielsweise bei Parteien kraft Amtes, die Berufung auf fremde Rechte im eigenen Namen im Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren an. Dies gilt insbesondere dann, wenn ansonsten die Gefahr bestünde, dass die betroffenen Rechte überhaupt nicht mit der Verfas­sungs­be­schwerde geltend gemacht werden könnten.

Bestellung eines Ergän­zungs­pflegers möglich

Die Rechte des Kindes können im konkreten Fall ohne Prozess­stand­schaft des Beschwer­de­führers im Verfahren der Verfas­sungs­be­schwerde geltend gemacht werden, denn es besteht rechtlich die Möglichkeit sowohl der Bestellung eines Ergän­zungs­pflegers als auch der Geltendmachung der Rechte des Kindes durch die bestellte Verfah­rens­bei­ständin. Ein Bedarf für eine zusätzliche Prozess­stand­schaft durch den Beschwer­de­führer besteht daher nicht. Das Kind kann im hiesigen Verfahren der Verfas­sungs­be­schwerde durch einen Ergänzungspfleger (§ 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB) vertreten werden. Gesetzliche Vertreterin des Kindes ist hier grundsätzlich die allein sorge­be­rechtigte Mutter. Bei Einlegung einer Verfas­sungs­be­schwerde mit dem Ziel, einen Verfas­sungs­verstoß durch die Unterlassung des Sorge­rechts­entzugs geltend zu machen, läge offensichtlich ein Inter­es­sen­wi­der­streit vor. Deshalb wäre die Vertretung des Kindes durch einen Ergän­zungs­pfleger erforderlich, aber auch möglich. Der Bestellung eines Ergän­zungs­pflegers grundsätzlich entge­gen­stehende Hindernisse sind nicht ersichtlich. Als Rechtsträger des Jugendamts hätte es dem Beschwer­de­führer offen gestanden, bei dem zuständigen Familiengericht die Einrichtung einer solchen Ergänzungspflegschaft für das Kind zur Durchführung des Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahrens anzuregen.

Auch Verfas­sungs­be­schwerde durch bestellten Verfah­rens­bei­ständin möglich

Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, die Interessen des Kindes durch eine Verfas­sungs­be­schwerde der im fachge­richt­lichen Verfahren bestellten Verfah­rens­bei­ständin auch im verfas­sungs­ge­richt­lichen Verfahren geltend zu machen. Dass die Verfah­rens­bei­ständin hier keine Verfas­sungs­be­schwerde erhoben hat, führt nicht zu einer unzureichenden Berück­sich­tigung der Interessen des betroffenen Kindes, die die Zulassung einer Prozess­stand­schaft des Beschwer­de­führers bedingt oder auch nur gestattet. Gelangt die Verfah­rens­bei­ständin nach eigener Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Rechte des Kindes im fachge­richt­lichen Verfahren nicht verletzt worden sind, lässt sich dies nicht als Verhinderung der Durchsetzung der Rechte des Kindes verstehen. Die Situation ist insbesondere nicht mit derjenigen von Eltern vergleichbar, die zur Erhebung der Verfas­sungs­be­schwerde nicht willens sind. Während Eltern in einer solchen Konstellation die Verfas­sungs­be­schwerde mit dem Ziel des Eingriffs in ihre eigenen Rechte erheben müssten und daher zwingend in einem Inter­es­sen­konflikt wären, kann in Bezug auf den Verfahrensbeistand angesichts seiner Aufga­ben­stellung, sowohl das subjektive Interesse des Kindes (Kindeswille) als auch dessen objektives Interesse (Kindeswohl) zu berücksichtigen, vermutet werden, dass seine Entscheidung gegen die Verfas­sungs­be­schwerde auch tatsächlich auf objektiven, das Kindeswohl berück­sich­ti­genden Erwägungen beruht.

Keine eigenen Rechte des Landkreises aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG

Der Beschwer­de­führer kann keine eigenen Rechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG geltend machen. Das staatliche Wächteramt des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gewährt bereits kein materielles grund­recht­s­ähn­liches Recht. Es ist untrennbar mit dem Anspruch des Kindes auf Schutz durch den Staat verbunden; es enthält eine staatliche Verpflichtung, die sich in erster Linie daraus ergibt, dass das Kind als Grund­recht­s­träger und als Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Schutz durch den Staat hat. Die Anerkennung der Eltern­ver­ant­wortung findet ihre Rechtfertigung darin, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigen­ver­ant­wort­lichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht. Hierüber hat der Staat zu wachen und notfalls das Kind, das sich nicht selbst zu schützen vermag, davor zu bewahren, dass seine Entwicklung durch einen Missbrauch der elterlichen Rechte oder eine Vernach­läs­sigung Schaden erleidet. Das Wächteramt enthält daher die zum Anspruch des Kindes auf Schutz spiegel­bildliche Pflicht des Staates, diesen Schutz auch zu gewährleisten. Rechte gegenüber dem Staat hat insoweit allein das Kind, dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 GG durch diesen Anspruch gerade geschützt sind. Ein subjektives Recht der mit dem Wächteramt befassten Behörden kann hieraus jedoch nicht hergeleitet werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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