21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil05.11.2019

Hartz IV: Sanktionen zur Durchsetzung von Mit­wirkungs­pflichten bei Bezug von Arbeits­lo­sengeld II teilweise verfas­sungs­widrigWiederholte Pflicht­ver­let­zungen innerhalb eines Jahres dürfen nicht zur Minderung von 60 % des Regelbedarfs oder zum vollständigen Wegfall der Leistungen führen

Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenz­si­chernder Leistungen an den Nachrang­grundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeits­lo­sengeld II auch zumutbare Mit­wirkungs­pflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außer­or­dent­lichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit; der sonst weite Einschätzungs­spiel­raum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­verfassungs­gerichts hervor.

Nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Empfänger von Arbeits­lo­sengeld II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechts­fol­gen­be­lehrung nicht an die Einglie­de­rungs­ver­ein­barung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeits­ge­le­genheit oder ein gefördertes Arbeits­ver­hältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflicht­ver­let­zungen ist nach § 31 a SGB II die Minderung des Arbeits­lo­sen­geldes II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungs­be­rechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflicht­ver­letzung mindert sich der Regelbedarf um 60 %. Bei jeder weiteren wiederholten Pflicht­ver­letzung entfällt das Arbeits­lo­sengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31 b SGB II drei Monate.

Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Fall verhängte das zuständige Jobcenter gegen den Kläger des Ausgangs­ver­fahrens zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30 %, nachdem dieser als ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermitt­lungs­gut­schein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage vor, ob die Regelungen in § 31 a in Verbindung mit § 31 und § 31 b SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Gesetzgeber verfügt bei Regelungen zur Sicherung des Existenz­mi­nimums über Gestal­tungs­spielraum

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass sich die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grund­si­che­rungs­leis­tungen aus der grund­recht­lichen Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ergeben. Der Gesetzgeber verfügt bei den Regeln zur Sicherung des menschen­würdigen Existenz­mi­nimums über einen Gestal­tungs­spielraum.

Die eigenständige Existenz­si­cherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigen­ver­ant­wort­liches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschen­würdigen Existenz an den Nachrang­grundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Damit gestaltet der Gesetzgeber das Sozial­staats­prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus.

Mitwir­kungs­pflichten müssen sich verfas­sungs­rechtlich rechtfertigen lassen

Der Nachrang­grundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetz­ge­be­rischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfe­be­dürf­tigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. Solche Mitwirkungspflichten beschränken allerdings die Handlungs­freiheit der Betroffenen und müssen sich daher verfas­sungs­rechtlich rechtfertigen lassen. Verfolgt der Gesetzgeber mit Mitwir­kungs­pflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfe­be­dürf­tigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie dafür auch geeignet, erforderlich und zumutbar sein.

Der Gesetzgeber darf verhält­nis­mäßige Mitwir­kungs­pflichten auch durchsetzbar ausgestalten. Er kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwir­kungs­pflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfe­be­dürf­tigkeit durchzusetzen. Solche Regelungen berücksichtigen die Eigen­ver­ant­wortung, da die Betroffenen die Folgen zu tragen haben, die das Gesetz an ihr Handeln knüpft.

Bei vorübergehender Minderung existenz­si­chernder Leistungen gelten strenge Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit

Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Sanktion der vorübergehenden Minderung existenz­si­chernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Mit dem Grundgesetz kann das dennoch vereinbar sein, wenn diese Sanktion darauf ausgerichtet ist, dass Mitwir­kungs­pflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Es gelten jedoch strenge Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Der sonst bestehende weite Einschät­zungs­spielraum des Gesetzgebers ist enger, wenn er auf existenz­si­chernde Leistungen zugreift. Je länger eine solche Sankti­o­ns­re­gelung in Kraft ist, umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es, um ihre Eignung, Erfor­der­lichkeit und Angemessenheit zu belegen.

Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind zudem weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist. Die Regelungen staatlicher Sozia­l­leis­tungen sind mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfe­be­dürf­tigkeit zu überwinden oder zu verhindern.

Mitwir­kungs­pflicht kann auch eine nicht dem eigenen Berufswunsch entsprechende Erwer­b­s­tä­tigkeit umfassen

Der Gesetzgeber verfolgt mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwir­kungs­pflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Diese Pflichten sind auch im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet, die erwähnten Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber überschreitet auch nicht seinen Einschät­zungs­spielraum zur Erfor­der­lichkeit, denn es ist nicht evident, dass weniger belastende Mitwir­kungs­hand­lungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Die Ausgestaltung der Mitwir­kungs­pflichten ist auch zumutbar. Der Gesetzgeber muss hier - anders als im Recht der Arbeits­för­derung - keinen Berufsschutz normieren, denn das Recht der Sozia­l­ver­si­cherung und das Grund­si­che­rungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass eine der in § 31 Abs. 1 SGB II benannten Mitwir­kungs­pflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) verstoßen würde. Es ist verfas­sungs­rechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwir­kungs­pflicht eine Erwer­b­s­tä­tigkeit betrifft, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumut­ba­r­keits­re­ge­lungen, die auch für die Mitwir­kungs­pflichten gelten, ist auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.

Durchsetzung legitimer Pflichten mit Sanktionen zulässig

Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfas­sungs­rechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht.

Höhe der Leistungs­min­derung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Die in § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungs­min­derung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist nach den derzeitigen Erkenntnissen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist schon die Belas­tungs­wirkung dieser Sanktion außerordentlich und die Anforderungen an ihre Verhält­nis­mä­ßigkeit sind entsprechend hoch. Doch kann sich der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, wonach eine solche Minderung der Grund­si­che­rungs­leis­tungen auch aufgrund einer abschreckenden Wirkung dazu beiträgt, die Mitwirkung zu erreichen, und er kann davon ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären. Zumutbar ist eine Leistungs­min­derung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs jedoch nur, wenn in einem Fall außer­ge­wöhn­licher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und wenn die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr drei Monate andauert.

Spürbar belastende Reaktion kann Betroffenen zur Umsetzung ihrer Pflichten motivieren

Der in § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II geregelten Leistungs­min­derung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfe­be­dürf­tigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen. Der gesetz­ge­be­rische Einschät­zungs­spielraum ist zwar begrenzt, weil das grundrechtlich geschützte Existenzminimum berührt ist. Doch genügt die Annahme, die Sanktion trage zur Erreichung ihrer Ziele bei, den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, weil der Gesetzgeber jedenfalls von einer abschreckenden ex ante-Wirkung dieser Leistungs­min­derung ausgehen kann. Zudem hat er Vorkehrungen getroffen, die den Zusammenhang zwischen der Mitwir­kungs­pflicht zwecks eigenständiger Existenz­si­cherung und der Leistungs­min­derung zu deren Durchsetzung stärken. Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass eine solche Sanktion zur Durchsetzung von Mitwir­kungs­pflichten erforderlich ist, hält sich noch in seinem Einschät­zungs­spielraum. Die gesetz­ge­be­rische Annahme, dass mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht zur Verfügung stehen, ist hinreichend tragfähig. Es erscheint jedenfalls plausibel, dass eine spürbar belastende Reaktion die Betroffenen dazu motivieren kann, ihren Pflichten nachzukommen, und eine geringere Sanktion oder positive Anreize keine generell gleichermaßen wirksame Alternative darstellen.

Die Regelung verletzt insgesamt auch nicht die hier strengen Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne.

Zwingende Minderung des Regelbedarfs bei Pflicht­ver­let­zungen ohne weitere Prüfung unzumutbar

Hingegen genügt die weitere Ausgestaltung dieser Sanktion zur Durchsetzung legitimer Mitwir­kungs­pflichten den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Die Vorgabe in § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflicht­ver­letzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist jedenfalls unzumutbar. Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außer­ge­wöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamt­be­trachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnah­me­si­tua­tionen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwir­kungs­pflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint.

Starr andauernder Leistungsentzug überschreitet Grenzen des gesetz­ge­be­rischen Gestal­tungs­spielraums

Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetz­ge­be­rischen Gestal­tungs­spielraums. Da der Gesetzgeber an die Eigen­ver­ant­wortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er existenz­si­chernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung verweigert wird, ist dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Die Bedürftigen müssen selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Ist die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklären sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, muss die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Auch hier ist der sonst weite Einschät­zungs­spielraum des Gesetzgebers begrenzt, weil die vorübergehende Minderung existenz­si­chernder Leistungen im durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Bereich harte Belastungen schafft, ohne dass sich die existenziellen Bedarfe der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt verändert hätten.

Minderung der Leistungen um 60 % nicht mit Grundgesetz vereinbar

Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwir­kungs­pflicht nach § 31 a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwir­kungs­pflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erfor­der­lichkeit einer Leistungs­min­derung in dieser Höhe verfas­sungs­rechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflicht­ver­letzung wiederholt und die Mitwir­kungs­pflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.

Wirksamkeit der Leistungs­min­derung bisher nicht hinreichend erforscht

Der Gesetzgeber hat zwar Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass Menschen durch eine Sanktion die Grundlagen dafür verlieren, überhaupt wieder in Arbeit zu kommen. Sie beseitigen aber die verfas­sungs­recht­lichen Bedenken nicht. Der Gesetzgeber kann sich bei der Minderung um 60 % des maßgebenden Regelbedarfs nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen, dass die erwünschten Wirkungen bei einer Sanktion in dieser Höhe tatsächlich erzielt und negative Effekte vermieden werden. Die Wirksamkeit dieser Leistungs­min­derung ist bisher nicht hinreichend erforscht. Wenn sich die Eignung tragfähig belegen lässt, Betroffene zur Mitwirkung an der Überwindung der Hilfe­be­dürf­tigkeit durch Erwerbsarbeit zu veranlassen, mag der Gesetzgeber ausnahmsweise auch eine besonders harte Sanktion vorsehen. Die allgemeine Annahme, diese Leistungs­min­derung erreiche ihre Zwecke, genügt aber angesichts der gravierenden Belastung der Betroffenen dafür nicht. Es ist im Übrigen auch zweifelhaft, dass einer wiederholten Pflicht­ver­letzung nicht durch mildere Mittel hinreichend effektiv entgegengewirkt werden könnte, wie durch eine zweite Sanktion in geringerer Höhe oder längerer Dauer.

Die Zweifel an der Eignung dieser Leistungs­min­derung in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs beseitigt die Regelung zu möglichen ergänzenden Leistungen in § 31 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht, da ihre Ausgestaltung den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung trägt.

Im Übrigen ergeben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60 % des Regelbedarfs nach § 31 a Abs. 1 Satz 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben ist und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern muss.

Vollständiger Wegfall des Arbeits­lo­sen­geldes II mit verfas­sungs­recht­lichen Maßgaben unvereinbar

Der vollständige Wegfall des Arbeits­lo­sen­geldes II nach § 31 a Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit den verfas­sungs­recht­lichen Maßgaben nicht vereinbar. Hier entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflege­ver­si­cherung. Daher bestehen bereits Zweifel, ob damit die Grundlagen der Mitwir­kungs­be­reit­schaft erhalten bleiben. Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenz­si­chernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfe­be­dürf­tigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.

Auch gegen die Erfor­der­lichkeit dieser Sanktion bestehen erhebliche Bedenken. Der grundsätzliche Einschät­zungs­spielraum des Gesetzgebers ist hier eng, weil die Sanktion eine gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschen­würdigen Existenz bewirkt. Er ist überschritten, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenz­si­chernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es ist offen, ob eine Minderung der Regel­be­da­rfs­leis­tungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minde­rungs­zeit­raumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen nicht genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben.

Schon angesichts der Eignungsmängel und der Zweifel an der Erfor­der­lichkeit einer derart belastenden Sanktion zur Durchsetzung der Mitwir­kungs­pflichten ergibt sich in der Gesamtabwägung, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhält­nis­mä­ßigkeit vereinbar ist.

Vollständiger Leistungsentzug kann bei Verweigerung einer tatsächlich existenz­si­chernden und zumutbaren Erwer­b­s­tä­tigkeit gerechtfertigt sein

Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeits­lo­sen­geldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenz­si­chernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwir­kungs­pflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt. Anders liegt dies, wenn und solange Leistungs­be­rechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Wird eine solche tatsächlich existenz­si­chernde und zumutbare Erwer­b­s­tä­tigkeit ohne wichtigen Grund verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, kann ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein.

Maßnahmen bleiben bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung eingeschränkt anwendbar

Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die - für sich genommen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandende - Leistungs­min­derung in Höhe von 30 % nach § 31 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außer­ge­wöhn­lichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungs­min­derung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31 a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflicht­ver­letzung eine Leistungs­min­derung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außer­ge­wöhn­lichen Härte führen würde. § 31 b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungs­entzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwir­kungs­pflicht erfüllt wird oder Leistungs­be­rechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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