21.11.2024
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Bundessozialgericht Beschluss12.12.2013

Hartz IV: Bundes­so­zi­al­gericht legt EuGH Fragen zum Gleich­behandlungs­gebot für EU-Bürger zur Vorab­ent­scheidung vorSteht arbeitsuchenden EU-Bürgern in Deutschland ein Anspruch auf Hartz IV zu?

Das Bundes­so­zi­al­gericht muss darüber entscheiden, ob EU-Bürgern bei einem Aufenthalt zur Arbeitssuche in Deutschland ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts nach dem SGB II zusteht. Das Bundes­so­zi­al­gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zum Gleich­behandlungs­gebot für EU-Bürger zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt.

Die Kläger des zugrunde liegenden Falls sind schwedische Staats­an­ge­hörige. Die 1966 in Bosnien geborene Klägerin zu 1) reiste im Juni 2010 erneut mit ihren Kindern, der im Mai 1994 geborenen Klägerin zu 2) und den in den Jahren 1998 und 1999 geborenen Klägern zu 3) und 4), in die Bundesrepublik ein. Sämtliche Kinder sind in Deutschland geboren. Den Klägern wurde am 1. Juli 2010 eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Nach ihrer Einreise bezog die Klägerin zu 1) Kindergeld für die Kläger zu 2) bis 4). Die Klägerinnen zu 1) und 2) waren seit Juni 2010 in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeits­ge­le­gen­heiten von weniger als einem Jahr tätig, jedoch nicht mehr in der Zeit ab Mai 2011. Im Übrigen bezogen die Kläger SGB II-Leistungen, zuletzt durch Bewilligung des beklagten Jobcenters für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012. Diese Bewilligung hob das Jobcenter mit den streitigen Bescheiden für den Zeitraum vom 1. bis 31. Mai 2012 für die Kläger in vollem Umfang unter Hinweis auf den von der Bundesrepublik erklärten Vorbehalt zum Europäischen Fürsor­ge­ab­kommen auf.

SG bejaht Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen

Das Sozialgericht Berlin hat den Aufhe­bungs­be­scheid aufgehoben, weil eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen nicht eingetreten sei. Die Kläger hätten auch im Mai 2012 Anspruch auf Arbeits­lo­sengeld II bzw. auf Sozialgeld gehabt. Zwar vermittele bei den Klägerinnen zu 1) und 2) - nach Beendigung der Beschäftigungen - wieder ausschließlich die Arbeitssuche das Aufent­haltsrecht, so auch im Mai 2012. Der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greife jedoch nicht, weil den Artikeln 2, 3, 4, 70 VO (EG) 883/2004 als jüngerem, höherrangigem und speziellerem Recht wegen § 30 Abs. 2 SGB I Vorrang zukomme. Artikel 4 VO (EG) 883/2004 untersage eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber den eigenen Staats­an­ge­hörigen und sei auf besondere beitrags­u­n­ab­hängige Geldleistungen anwendbar.

Beklagte verneint Verstoß gegen Europäisches Fürsor­ge­ab­kommen

Mit seiner Revision macht das Jobcenter geltend, dass der Leistungs­aus­schluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen Gemein­schaftsrecht verstoße. Bei den SGB II-Regelbedarfen handele es sich um Sozia­l­hil­fe­leis­tungen im Sinne des Artikels 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG. Diese hätten nicht den Zweck, den Arbeits­ma­rkt­zugang zu erleichtern, sondern dienten der Existenz­si­cherung. Dies belege die in § 1 Abs. 3 SGB II vorgenommene Unterscheidung zwischen Leistungen zur Beendigung der Verringerung der Hilfe­be­dürf­tigkeit, insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und solchen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts. Zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt sehe das SGB II für Arbeitsuchende vielmehr in den §§ 16 ff SGB II weitere Leistungen vor, die gesondert erbracht würden. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße nicht gegen die seit dem 1. Mai 2010 anwendbare VO (EG) Nr. 883/2004. Der Leistungs­aus­schluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße auch nicht gegen das Europäische Fürsor­ge­ab­kommen, weil der von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärte Vorbehalt wirksam sei. Der Vorbehalt stehe auch mit Verfas­sungsrecht in Einklang. Wegen der fehlenden Beteiligung mehrerer Völker­rechts­subjekte könne der einseitige Vorbehalt der Bundesregierung nicht als Vertrag im Sinne des Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 GG angesehen werden.

BSG legt EuGH Fragen zur Vorab­ent­scheidung vor

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Fragen zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt:

1. Gilt das Gleich­be­hand­lungsgebot des Artikel 4 VO (EG) 883/2004 - mit Ausnahme des Expor­taus­schlusses des Artikel 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 - auch für die besonderen beitrags­u­n­ab­hängigen Geldleistungen im Sinne von Artikel 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004?

2. Falls 1) bejaht wird: Sind - ggf. in welchem Umfang - Einschränkungen des Gleich­be­hand­lungs­gebots des Artikel 4 VO (EG) 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechts­vor­schriften in Umsetzung des Artikel 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufent­haltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt?

3. Steht Artikel 45 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Artikel 18 AEUV einer nationalen Bestimmung entgegen, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizü­gig­keits­rechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenz­si­cherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufent­halts­rechts nur zur Arbeitsuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert?

Die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erfolgt auf der Grundlage von Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der den Mitgliedstaaten eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ermöglichen soll. Das Bundes­so­zi­al­gericht ist als letzt­in­sta­nz­liches Gericht der Sozial­ge­richts­barkeit nach Artikel 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, dem EuGH ein Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen zur Auslegung einer Norm des Unionsrechts vorzulegen, wenn es dies zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits für erforderlich hält.

BSG verneint einen sich aus dem Europäischen Fürsor­ge­ab­kommen ergebenden Anspruch auf SGB II-Leistungen

Das Gericht geht nach Vorprüfung im Rahmen des Vorla­ge­ver­fahrens davon aus, dass sich im streitigen Monat Mai 2012 ein Anspruch der Kläger auf SGB II-Leistungen nicht mehr bereits aus dem Europäischen Fürsor­ge­ab­kommen ergab und der von der Bundesregierung am 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt wirksam ist. Von der richtigen Auslegung der in den Vorlagefragen bezeichneten Vorschriften des Unionsrechts hängt es ab, ob die deutsche Ausschluss­klausel für EU-Bürger wirksam ist. Verstößt sie gegen EU-Recht, hatten die Kläger im Monat Mai 2012 weiterhin einen Anspruch auf SGB II-Leistungen und der Aufhe­bungs­be­scheid wäre rechtswidrig.

Ausschluss würde übermäßige Belastung des Leistung gewährenden Mitgliedstaates vermeiden

Die Ausschluss­klausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II differenziert nach der Staats­an­ge­hö­rigkeit, weil sie Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts arbeitsuchenden EU-Bürgern anderer Mitgliedstaaten für die gesamte Dauer ihres Aufent­halts­rechts zur Arbeitsuche uneingeschränkt verweigert, während deutsche Staats­an­ge­hörige diese beanspruchen können. Die Frage, ob diese Ungleich­be­handlung möglich ist, hängt zum einen von der Auslegung der in Artikel 4 der Verordnung (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der Sicherheit enthaltenen Verpflichtung zur Gleich­be­handlung auf dem Gebiet des Sozialrechts sowie der Tragweite dieses Gleich­be­hand­lungs­grund­satzes ab. Die weitere, an den EuGH gerichtete Vorlagefrage betrifft das Verhältnis dieses Gleich­be­hand­lungs­grund­satzes zu der Beschränkung des Artikels 24 Abs. 2 der Freizü­gig­keitsRL 2004/38/EG. Diese soll es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Erbringung von Sozia­l­hil­fe­leis­tungen an arbeitsuchende Unionsbürger zur Vermeidung einer übermäßigen Belastung des gewährenden Mitgliedstaats auszuschließen. Die dritte Frage berücksichtigt die EuGH-Rechtsprechung zu Sozia­l­leis­tungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und nach dem Recht der Mitgliedstaaten von Umständen abhängig gemacht werden können, die für eine tatsächliche Verbindung zwischen der betroffenen Person und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt repräsentativ sind.

Zu der Vereinbarkeit der Ausschluss­klausel mit EU-Recht liegen bereits zahlreiche Entscheidungen der Sozialgerichte und Landes­so­zi­al­ge­richte, insbesondere in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, vor.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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