18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil15.09.2015

Deutschland darf arbeitsuchende Unionsbürger von bestimmten Sozia­l­leis­tungen ausschließenGrundsatz der Gleich­be­handlung bei verweigerten "Hartz IV-Leistungen" nicht verletzt

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat Unionsbürger, die in diesen Staat zur Arbeitsuche einreisen, von bestimmten beitrags­unabhängigen Sozia­l­leis­tungen ausschließen darf.

Ausländer, die nach Deutschland kommen, um Sozialhilfe zu erhalten, oder deren Aufent­haltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, erhalten keine Leistungen der deutschen Grundsicherung*. Im Urteil Dano vom 11. November 2011 hat der Gerichtshof unlängst festgestellt, dass ein solcher Ausschluss bei Staats­an­ge­hörigen eines Mitgliedstaats, die in einen anderen Mitgliedstaat einreisen, ohne dort Arbeit suchen zu wollen, zulässig ist.

Bundes­so­zi­al­gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zum möglichen Leistungs­aus­schluss

In der vorliegenden Rechtssache möchte das deutsche Bundes­so­zi­al­gericht wissen, ob ein derartiger Ausschluss auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnah­me­mit­gliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben, wenn Staats­an­ge­hörige des Aufnah­me­mit­glied­staats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

Sachverhalt

Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Jobcenter Berlin Neukölln und vier schwedischen Staats­an­ge­hörigen: Frau Alimanovic, die in Bosnien geboren wurde, und ihren drei Kindern, Sonita, Valentina und Valentino, die 1994, 1998 und 1999 in Deutschland zur Welt gekommen sind. Die Familie Alimanovic war 1999 von Deutschland nach Schweden gezogen und ist im Juni 2010 nach Deutschland zurückgekehrt. Nach ihrer Rückkehr waren Frau Nazifa Alimanovic und ihre älteste Tochter Sonita weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeits­ge­le­gen­heiten tätig. Seither waren sie nicht mehr erwerbstätig. Der Familie Alimanovic wurden daraufhin für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 Leistungen der Grundsicherung bewilligt, nämlich Nazifa Alimanovic und ihrer Tochter Sonita Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­terhalts für Langzeit­a­r­beitslose (Arbeits­lo­sengeld II) und den Kindern Valentina und Valentino Sozialgeld für nicht erwerbstätige Leistungs­be­rechtigte. Im Jahr 2012 stellte die zuständige Behörde, das Jobcenter Berlin Neukölln, schließlich die Zahlung der Grund­si­che­rungs­leis­tungen mit der Begründung ein, dass Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter als ausländische Arbeitsuchende, deren Aufent­haltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, keinen Anspruch auf diese Leistungen hätten. Infolgedessen schloss das Jobcenter auch die anderen Kinder von den entsprechenden Leistungen aus.

Weigerung zur Zahlung bestimmter Geldleistungen verstößt nicht gegen Grundsatz der Gleich­be­handlung

In Beantwortung der Fragen des Bundes­so­zi­al­ge­richts hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufent­haltsrecht in einem Aufnah­me­mit­gliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, bestimmte "besondere beitrags­u­n­ab­hängige Geldleistungen"** zu gewähren, die auch eine Leistung der "Sozialhilfe" (im Sinne der "Unions­bür­ger­richtline" 2004/38/EG) darstellen, nicht gegen den Grundsatz der Gleich­be­hand­lung*** verstößt.

Leistungen der Sicherung des Lebens­un­terhalts sind als Sozia­l­leis­tungen anzusehen

Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebens­un­terhalts von Personen dienen, die ihn nicht selbst bestreiten können, und beitrags­u­n­ab­hängig durch Steuermittel finanziert werden, auch wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht. Er betont, dass diese Leistungen – ebenso wie in der Rechtssache Dano – als "Sozialhilfe" anzusehen sind.

Für Anspruch auf Leistungen muss Aufenthalt Voraussetzungen der "Unions­bür­ger­richtlinie" erfüllen

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangs­ver­fahren streitigen eine Gleich­be­handlung mit den Staats­an­ge­hörigen des Aufnah­me­mit­glied­staats nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnah­me­mit­glied­staats die Voraussetzungen der "Unions­bür­ger­richtlinie" erfüllt.

Bei unfreiwilliger Arbeits­lo­sigkeit und Meldung beim Arbeitsamt bleibt Erwer­b­s­tä­tig­keits­ei­gen­schaft für mindestens sechs Monate bestehen

Für Arbeitsuchende wie im vorliegenden Fall gibt es – nach den Feststellungen des Gerichtshofs – zwei Möglichkeiten, um ein Aufent­haltsrecht zu erlangen: Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufent­haltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwer­b­s­tä­ti­ge­nei­gen­schaft und sein Aufent­haltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleich­be­hand­lungs­grundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozia­l­hil­fe­leis­tungen.

Bei noch nicht erfolgter Arbeit oder Ablauf der Sechs-Monats-Frist dürfen Sozia­l­hil­fe­leistung verweigert werden

Wenn ein Unionsbürger im Aufnah­me­mit­gliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnah­me­mit­gliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnah­me­mit­gliedstaat jedoch jegliche Sozia­l­hil­fe­leistung verweigern.

Umstände des Einzelnen müssen individuell geprüft werden

Schließlich weist der Gerichtshof noch einmal darauf hin, dass, wenn ein Staat eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass eine Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozia­l­hil­fe­system eine unangemessene Belastung verursacht, die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigt werden müssen. Der Gerichtshof betont jedoch, dass eine solche individuelle Prüfung bei einer Fallgestaltung wie der hier vorliegenden nicht erforderlich ist, weil das in der "Unions­bür­ger­richtlinie" vorgesehene abgestufte System für die Aufrecht­er­haltung der Erwer­b­s­tä­ti­ge­nei­gen­schaft (das das Aufent­haltsrecht und den Zugang zu Sozia­l­leis­tungen sichern soll) selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die die persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen. Der Gerichtshof stellt zudem klar, dass die Frage, ob der Bezug von Sozia­l­leis­tungen eine "unangemessene Inanspruchnahme" eines Mitgliedstaats darstellt, nach Aufsummierung sämtlicher Einzelanträge zu beurteilen ist.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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