18.10.2024
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Dokument-Nr. 14066

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Bundessozialgericht Urteil23.08.2012

Hartz IV: Allein­er­zie­henden dürfen höhere Leistungen nicht wegen des Zusammenlebens mit Familien­an­ge­hörigen verwehrt werdenLeistungsträger muss erheblich Unterstützung durch Familien­an­ge­hörigen nachweisen können

Allein­er­ziehende Elternteile können auch dann Anspruch auf Mehrbedarf beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II haben, wenn sie mit ihren Eltern und/oder Geschwistern in einem Haus zusammen wohnen. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts hervor.

Die 1971 geborene Klägerin des zugrunde liegenden Streitfalls lebte im streitigen Zeitraum von Mai 2007 bis März 2008 mit ihren beiden 1991 und 2003 geborenen Kindern, ihren Renten­leis­tungen beziehenden Eltern sowie ihrer Schwester in einem in ihrem Eigentum stehenden Einfamilienhaus mit einer Gesamt­wohn­fläche von 97 m². Der Beklagte bewilligte ihr im streitigen Zeitraum - ohne von einer Haushalts­ge­mein­schaft auszugehen - SGB II-Leistungen ohne Berück­sich­tigung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende.

LSG: Allein­er­zie­hender kann Leistung nicht versagen werden, weil sie mit Familien­an­ge­hörigen unter einem Dach lebt

Das Landes­so­zi­al­gericht Berlin-Brandenburg hat die Berufung des Beklagten gegen das zusprechende Urteil des Sozialgerichts Neuruppin mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dieser dem Grunde nach verurteilt werde, der Klägerin im streitigen Zeitraum höhere Grund­si­che­rungs­leis­tungen unter Berück­sich­tigung eines Mehrbedarfs gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II zu gewähren. Der Sohn der Klägerin sei ohne wesentliche, dem typischen Pflege- und Erzie­hungs­beitrag eines Vaters entsprechende Beteiligung Dritter von ihr versorgt und erzogen worden. Ihre Eltern hätten im Wesentlichen übereinstimmend bekundet, dass die Klägerin seinerzeit nahezu allein insbesondere für die Ernährung, die Bekleidung, die Erziehung und das seelische Wohl der Kinder zuständig gewesen und dabei von ihnen oder der Schwester nicht in erheblichem Maße unterstützt worden sei. Dabei könne offen bleiben, ob bzw. inwieweit bei den Eltern und der Schwester eine Bereitschaft zur Mitwirkung bestanden habe, weil Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht (ausschließlich) der Eltern sei. Die Rechtfertigung des Mehrbedarfs für Allein­er­ziehende erlaube es nicht, § 21 Abs. 3 SGB II so auszulegen, dass einer Allein­er­zie­henden die Leistung zu versagen sei, weil sie mit Familien­an­ge­hörigen unter einem Dach lebe, die zwar die zur Rechtfertigung des Mehrbedarfs allgemein herangezogenen Bedarfslagen ausglichen, ansonsten an Pflege und Erziehung der Kinder aber nicht substantiell beteiligt seien. Der Senat wende daher die Vorschrift trotz der aufgezeigten Ungereimtheiten - die Vorschrift sei in einem auf Bedarfsdeckung ausgerichteten System ein Fremdkörper - mangels sinnvoller Alternative gemäß ihrem Wortlaut an und halte sie nicht für verfas­sungs­widrig.

Bei Auslegung des Begriffs der "alleinigen Sorge" ist auf zeitlichen Umfang der tatsächlichen und regelmäßigen Betreuung abzustellen

Die hiergegen gerichtete Revision des Beklagten wies das Bundes­so­zi­al­gericht zurück. Das Gericht sah keine Veranlassung zur Korrektur seiner am Wortlaut des § 21 Abs. 3 SGB II orientierten Auslegung des Begriffs der "alleinigen Sorge für die Pflege und Erziehung" von Kindern. Insofern haben die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des Bundes­so­zi­al­ge­richts auf die Geset­zes­be­gründung für den Mehrbedarf für Allein­er­ziehende abgestellt, nach der typisierend und beispielhaft davon ausgegangen wird, dass diese wegen der Sorge für ihre Kinder weniger Zeit zum preisbewussten Einkauf und höhere Aufwendungen für die Kontaktpflege sowie externen Rat in Betreuungs-, Gesundheits- und Erzie­hungs­fragen durch Fremdbetreuung haben. Die Aufwendungen u.a. mit der Notwendigkeit einer zeitweisen "Fremdbetreuung" rechtfertigen es, bei der Auslegung des Begriffs der "alleinigen Sorge" auf den zeitlichen Umfang der tatsächlichen und regelmäßigen Betreuung in der - neben der Schule oder Kinder­ta­ges­ein­richtung - verbleibenden Betreuungszeit durch den Elternteil und das Fehlen einer nachhaltigen Unterstützung durch andere Personen abzustellen.

Mehrbedarf ist von Umfang regelmäßiger Betreu­ungs­leistung durch Elternteil abhängig zu machen

Es ist eine von der Rechtsprechung zu beachtende vertretbare gesetz­ge­be­rische Entscheidung, den Mehrbedarf von dem Umfang der regelmäßigen Betreu­ungs­leistung durch den Elternteil, also der tatsächlichen Ausübung ihrer elterlichen Sorge, abhängig zu machen und nicht bereits auszuschließen, wenn - wie in dem vorliegenden atypischen Fall - auch eine anderweitige, tatsächlich aber nicht regelmäßig wahrgenommene Betreuung hätte stattfinden können. Die Ausgestaltung des Mehrbedarfs, der im SGB II nicht vom Nachweis eines konkreten Aufwands abhängt, sondern typisierend und pauschalierend bei Vorliegen einer "alleinigen Pflege und Erziehung" in gesetzlich fixierter Höhe angenommen wird, obliegt ebenso in erster Linie dem Gesetzgeber.

Klägerin wurde nicht in erheblichem Umfang bei der Pflege und Erziehung der Kinder unterstützt

Das Landes­so­zi­al­gericht hat - trotz der hier vorliegenden atypischen Situation des Wohnens in einem Haus mit den Eltern der Klägerin und deren Schwester, allerdings ohne Vorliegen einer Haushalts­ge­mein­schaft - für den Senat bindend festgestellt, dass die Klägerin von diesen tatsächlich nicht in erheblichem Umfang bei der Pflege und Erziehung der Kinder unterstützt wird. Diese Feststellungen hat der Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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