23.11.2024
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Bundessozialgericht Urteil05.05.2015

Zahlung von Kindergeld an elternlose Flücht­lings­kinder darf nicht von Erwer­b­s­tä­tigkeit abhängig gemacht werdenBundes­so­zi­al­gericht erleichtert Kinder­geld­zahlung an nichtbegleitete oder elternlose Flücht­lings­kinder

Die Zahlung von Kindergeld an Kinder, die ohne Eltern schon lange in Deutschland leben, weil sie nicht abgeschoben werden können und deshalb über einen entsprechenden Aufent­halt­stitel verfügen, kann nicht von einer Erwer­b­s­tä­tigkeit abhängig gemacht werden. Dies entschied das Bundes­so­zi­al­gericht.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die klagende Stadt Bonn kam jahrelang als Trägerin der Kinder- und Jugendhilfe für die stationäre Heimun­ter­bringung des 1992 in Kinshasa/Kongo geborenen Milambo B. auf. Dieser reiste im Alter von zwei Jahren (1994) mit seiner 1998 verstorbenen Mutter nach Deutschland ein und lebt seither hier. Sein Asylantrag wurde rechtskräftig abgelehnt, sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aber seither geduldet. Der Aufenthalt des Vaters ist unbekannt. 2005 erhielt Milambo B. eine Aufent­halt­s­er­laubnis ohne die Gestattung zur Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit (§ 25 Absatz 5 Aufent­halts­gesetz).

LSG weist Klage auf Erhalt von Kindergeld ab

Die Stadt Bonn beantragte bei der Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse - Milambo B. Kindergeld zu bewilligen, um damit einen Teil der Kosten für die Heimun­ter­bringung abzudecken. Die Familienkasse lehnte ab, wurde aber auf Klage der Stadt Bonn verurteilt, dem beigeladenen Milambo B. Kindergeld zu bewilligen (von März 2005 bis November 2009). Das Landes­so­zi­al­gericht Nordrhein-Westfalen hat das erstin­sta­nzliche Urteil dagegen aufgehoben und die Klage auf Kindergeld abgewiesen. Milambo B. erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen nicht. Das Bundes­kin­der­geld­gesetz verlange auch in solchen Fällen einen Aufent­halt­stitel mit einer Berechtigung zur Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit sowie eine tatsächliche Erwer­b­s­tä­tigkeit beziehungsweise den Bezug von Arbeits­lo­sengeld.

BSG bejaht Anspruch auf Kindergeld

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat der klagenden Stadt Bonn jetzt Recht gegeben und das erstin­sta­nzliche Urteil wieder hergestellt. Milambo B. hatte im streitigen Zeitraum Anspruch auf Kindergeld. Normalerweise wird das Kindergeld an Eltern für deren Kinder gezahlt. Dies war im Fall des Beigeladenen aber nicht möglich, weil seine Mutter verstorben und der Aufenthalt seines Vaters unbekannt war. In solchen Fällen lässt das Gesetz bei Deutschen und EU-Angehörigen die Gewährung von Kindergeld an das Kind selbst zu, wenn es seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.

Voraussetzungen für Kinder­geldan­spruch

Für nicht freizü­gig­keits­be­rechtigte Ausländer, also insbesondere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten wie Milambo B., knüpft das Gesetz den Kinder­geldan­spruch auch für sich selbst aber an zusätzliche Voraussetzungen. Hat ein solcher Ausländer nur einen Aufent­halt­stitel wegen eines dauernden Abschie­bungs­hin­der­nisses, verlangt das Gesetz für einen Kinder­geldan­spruch dreierlei: Der Ausländer muss sich 1. seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten, 2. sein Aufent­halt­stitel muss zur Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit berechtigen und er muss 3. im Bundesgebiet tatsächlich erwerbstätig sein, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozial­ge­setzbuch beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (nach § 25 Absatz 5 Aufent­halts­gesetz).

Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt

Milambo B. konnte diese Voraussetzungen im streitigen Zeitraum schon deshalb nicht vollständig erfüllen, weil er als Kind zunächst keiner Erwer­b­s­tä­tigkeit nachgehen durfte und später als Jugendlicher seinen Schulbesuch in Deutschland fortgesetzt hat.

BSG schränkt Bundes­kin­der­geld­gesetz in Bezug auf Erfordernis einer Erwer­b­s­tä­tigkeit verfas­sungs­konform ein

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat sich dafür entschieden, das Bundes­kin­der­geld­gesetz in Bezug auf das Erfordernis einer Erwer­b­s­tä­tigkeit verfas­sungs­konform einzuschränken. Denn ein Gesetz darf nichts verlangen, was rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Kinderarbeit ist in Deutschland im Grundsatz gesetzlich verboten. Elternlosen beziehungsweise unbegleiteten ausländischen Kindern darf deshalb Kindergeld für sich selbst nicht allein mit der Begründung versagt werden, sie seien im Anspruchszeit-raum nicht erwerbstätig (gewesen). Ein solches Kind kann vielmehr Kindergeld für sich selbst verlangen, wenn es die geforderten drei Jahre Voraufenthalt in Deutschland sowie eine humanitäre Aufent­halt­s­er­laubnis nach § 25 Absatz 5 Aufent­halts­gesetz aufweisen kann, solange es aufgrund seines geringen Alters ohnehin nicht erwerbstätig sein dürfte oder ihn danach sein Schulbesuch an einer Erwer­b­s­tä­tigkeit hindert.

Konstellation elternloser ausländischer Kinder und Jugendlicher vom Gesetzgeber voraussichtlich versehentlich nicht geregelt

Das Bundes­so­zi­al­gericht ist überzeugt, dass der Gesetzgeber diese besondere Konstellation elternloser beziehungsweise unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher, die für lange Zeit nicht in ihr Heimatland zurückkehren können, übersehen und deshalb versehentlich nicht geregelt hat. Die Prognose eines voraus­sicht­lichen Dauer­auf­ent­haltes in Deutschland kann jedenfalls bei ihnen nicht davon abhängig gemacht werden, dass sie als Kinder einer Erwer­b­s­tä­tigkeit nachgehen, Leistungen nach dem Dritten Buch Sozial­ge­setzbuch erziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Die Verwendung eines offensichtlich ungeeigneten und daher gleich­heits­widrigen Ausschluss­kri­teriums für den Kindergeld-anspruch kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden.

Hinweis zur Rechtslage

§ 1 Absatz 2 Satz 1 Bundes­kin­der­geld­gesetz (BKGG) lautet:

Kindergeld für sich selbst erhält, wer

1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,

2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und

3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

§ 1 Absatz 3 BKGG lautet:

Ein nicht freizü­gig­keits­be­rech­tigter Ausländer erhält Kindergeld nur, wenn er

1. eine Nieder­las­sungs­er­laubnis besitzt,

2. eine Aufent­halt­s­er­laubnis besitzt, die zur Ausübung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit berechtigt oder berechtigt hat, es sei denn, die Aufent­halt­s­er­laubnis wurde

a) nach § 16 oder § 17 des Aufent­halts­ge­setzes erteilt,

b) nach § 18 Absatz 2 des Aufent­halts­ge­setzes erteilt und die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit darf nach der Beschäf­ti­gungs­ver­ordnung nur für einen bestimmten Höchstzeitraum erteilt werden,

c) nach § 23 Absatz 1 des Aufent­halts­ge­setzes wegen eines Krieges in seinem Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25 Absatz 3 bis 5 des Aufent­halts­ge­setzes erteilt oder

3. eine in Nummer 2 Buchstabe c genannte Aufent­halt­s­er­laubnis besitzt und

a) sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und

b) im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozial­ge­setzbuch bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt.

Quelle: Bundessozialgericht/ra-online

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