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Bundessozialgericht Urteil05.05.2015
Zahlung von Kindergeld an elternlose Flüchtlingskinder darf nicht von Erwerbstätigkeit abhängig gemacht werdenBundessozialgericht erleichtert Kindergeldzahlung an nichtbegleitete oder elternlose Flüchtlingskinder
Die Zahlung von Kindergeld an Kinder, die ohne Eltern schon lange in Deutschland leben, weil sie nicht abgeschoben werden können und deshalb über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügen, kann nicht von einer Erwerbstätigkeit abhängig gemacht werden. Dies entschied das Bundessozialgericht.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die klagende Stadt Bonn kam jahrelang als Trägerin der Kinder- und Jugendhilfe für die stationäre Heimunterbringung des 1992 in Kinshasa/Kongo geborenen Milambo B. auf. Dieser reiste im Alter von zwei Jahren (1994) mit seiner 1998 verstorbenen Mutter nach Deutschland ein und lebt seither hier. Sein Asylantrag wurde rechtskräftig abgelehnt, sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aber seither geduldet. Der Aufenthalt des Vaters ist unbekannt. 2005 erhielt Milambo B. eine Aufenthaltserlaubnis ohne die Gestattung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 25 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz).
LSG weist Klage auf Erhalt von Kindergeld ab
Die Stadt Bonn beantragte bei der Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse - Milambo B. Kindergeld zu bewilligen, um damit einen Teil der Kosten für die Heimunterbringung abzudecken. Die Familienkasse lehnte ab, wurde aber auf Klage der Stadt Bonn verurteilt, dem beigeladenen Milambo B. Kindergeld zu bewilligen (von März 2005 bis November 2009). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat das erstinstanzliche Urteil dagegen aufgehoben und die Klage auf Kindergeld abgewiesen. Milambo B. erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen nicht. Das Bundeskindergeldgesetz verlange auch in solchen Fällen einen Aufenthaltstitel mit einer Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit sowie eine tatsächliche Erwerbstätigkeit beziehungsweise den Bezug von Arbeitslosengeld.
BSG bejaht Anspruch auf Kindergeld
Das Bundessozialgericht hat der klagenden Stadt Bonn jetzt Recht gegeben und das erstinstanzliche Urteil wieder hergestellt. Milambo B. hatte im streitigen Zeitraum Anspruch auf Kindergeld. Normalerweise wird das Kindergeld an Eltern für deren Kinder gezahlt. Dies war im Fall des Beigeladenen aber nicht möglich, weil seine Mutter verstorben und der Aufenthalt seines Vaters unbekannt war. In solchen Fällen lässt das Gesetz bei Deutschen und EU-Angehörigen die Gewährung von Kindergeld an das Kind selbst zu, wenn es seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
Voraussetzungen für Kindergeldanspruch
Für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, also insbesondere Ausländer aus Nicht-EU-Staaten wie Milambo B., knüpft das Gesetz den Kindergeldanspruch auch für sich selbst aber an zusätzliche Voraussetzungen. Hat ein solcher Ausländer nur einen Aufenthaltstitel wegen eines dauernden Abschiebungshindernisses, verlangt das Gesetz für einen Kindergeldanspruch dreierlei: Der Ausländer muss sich 1. seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten, 2. sein Aufenthaltstitel muss zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigen und er muss 3. im Bundesgebiet tatsächlich erwerbstätig sein, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (nach § 25 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz).
Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt
Milambo B. konnte diese Voraussetzungen im streitigen Zeitraum schon deshalb nicht vollständig erfüllen, weil er als Kind zunächst keiner Erwerbstätigkeit nachgehen durfte und später als Jugendlicher seinen Schulbesuch in Deutschland fortgesetzt hat.
BSG schränkt Bundeskindergeldgesetz in Bezug auf Erfordernis einer Erwerbstätigkeit verfassungskonform ein
Das Bundessozialgericht hat sich dafür entschieden, das Bundeskindergeldgesetz in Bezug auf das Erfordernis einer Erwerbstätigkeit verfassungskonform einzuschränken. Denn ein Gesetz darf nichts verlangen, was rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Kinderarbeit ist in Deutschland im Grundsatz gesetzlich verboten. Elternlosen beziehungsweise unbegleiteten ausländischen Kindern darf deshalb Kindergeld für sich selbst nicht allein mit der Begründung versagt werden, sie seien im Anspruchszeit-raum nicht erwerbstätig (gewesen). Ein solches Kind kann vielmehr Kindergeld für sich selbst verlangen, wenn es die geforderten drei Jahre Voraufenthalt in Deutschland sowie eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz aufweisen kann, solange es aufgrund seines geringen Alters ohnehin nicht erwerbstätig sein dürfte oder ihn danach sein Schulbesuch an einer Erwerbstätigkeit hindert.
Konstellation elternloser ausländischer Kinder und Jugendlicher vom Gesetzgeber voraussichtlich versehentlich nicht geregelt
Das Bundessozialgericht ist überzeugt, dass der Gesetzgeber diese besondere Konstellation elternloser beziehungsweise unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher, die für lange Zeit nicht in ihr Heimatland zurückkehren können, übersehen und deshalb versehentlich nicht geregelt hat. Die Prognose eines voraussichtlichen Daueraufenthaltes in Deutschland kann jedenfalls bei ihnen nicht davon abhängig gemacht werden, dass sie als Kinder einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch erziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Die Verwendung eines offensichtlich ungeeigneten und daher gleichheitswidrigen Ausschlusskriteriums für den Kindergeld-anspruch kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden.
Hinweis zur Rechtslage
§ 1 Absatz 2 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) lautet:
Kindergeld für sich selbst erhält, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
§ 1 Absatz 3 BKGG lautet:
Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhält Kindergeld nur, wenn er
1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt,
2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat, es sei denn, die Aufenthaltserlaubnis wurde
a) nach § 16 oder § 17 des Aufenthaltsgesetzes erteilt,
b) nach § 18 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes erteilt und die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit darf nach der Beschäftigungsverordnung nur für einen bestimmten Höchstzeitraum erteilt werden,
c) nach § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes wegen eines Krieges in seinem Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25 Absatz 3 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt oder
3. eine in Nummer 2 Buchstabe c genannte Aufenthaltserlaubnis besitzt und
a) sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und
b) im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.05.2015
Quelle: Bundessozialgericht/ra-online
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