18.10.2024
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Dokument-Nr. 6992

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Bundessozialgericht Urteil13.11.2008

Kein Anspruch des Stiefkindes auf Hartz IV bei ausreichendem Einkommen des neuen Partners der Mutter in einer Patchwork-FamilieWahl der Lebensform "eheähnliche Gemeinschaft" gegenüber der Lebensform "Ehe" darf nicht zum Nachteil der Allgemeinheit sein

Als Bedarfs­ge­mein­schaft im Sinne des SGB II sind auch sogenannte Patchwork-Familien anzusehen. Dies hat das Bundes­so­zi­al­gericht entschieden. Daher haben Trennungskinder keinen Anspruch auf Sozia­l­leis­tungen, wenn der gemeinsame Haushalt über ein ausreichendes Einkommen verfügt. Dies entschieden die Richter im Falle einer arbeitslosen Mutter, die mit ihrem Kind zu einem Mann gezogen war. Der verfügte über ausreichendes Einkommen. Das Einkommen des Mannes darf angerechnet werden, auch wenn er famili­en­rechtlich nicht unter­halts­pflichtig ist.

Die heute 15-jährige Klägerin zog im November 2005 gemeinsam mit ihrer Mutter zu dem neuen Partner der Mutter. Der Partner, mit dem die Mutter nicht verheiratet ist, hat eine eigene Tochter. Die vier leben seitdem in einer so genannten Patchwork-Familie. Da die Mutter kein ausreichendes Einkommen erzielt, bezog die Klägerin bis Ende Juli 2006 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Das Einkommen des Partners war zwar ausreichend zur Deckung seines Bedarfs, des Bedarfs der Mutter und seines eigenen Kindes. Nach der alten Rechtslage wurde das Einkommen des neuen Partners der Mutter aber nicht auf den Bedarf der Klägerin angerechnet, weil sie nicht sein leibliches Kind ist.

SGB II-Neuregelung bei so genannten "Stiefkindern"

Der Gesetzgeber hat zum 1. August 2006 die Berück­sich­tigung von Einkommen bei so genannten "Stiefkindern" neu geregelt. Nach dem neuen § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei der Prüfung der Hilfe­be­dürf­tigkeit des "fremden" Kindes nunmehr auch das Einkommen und Vermögen des "Stief"-Partners bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Die Beklagte hob daraufhin mit Wirkung zum 1. August 2006 die ursprüngliche Bewilligung für die Zeit ab dem Inkrafttreten der Neuregelung auf, weil das Einkommen des neuen Partners der Mutter auch ausreichte, den Bedarf der Klägerin zu decken. Die Klägerin erhält seitdem keine Leistungen nach dem SGB II, weil das Einkommen des Partners zur Deckung des gesamten Bedarfs der Bedarfsgemeinschaft ausreiche. Das Sozialgericht hat diese Entscheidung der Beklagten bestätigt.

BSG weist Klage ab

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Beklagte war berechtigt, die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Klägerin für den Monat August 2006 aufzuheben. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X iVm. § 40 Abs. 1 SGB II liegen vor. Zum 1. August 2006 trat mit § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ein. Nunmehr ist bei der Prüfung der Hilfe­be­dürf­tigkeit eines unverheirateten Kindes, das mit seinem Elternteil in einer Bedarfs­ge­mein­schaft lebt, auch Einkommen und Vermögen des neuen Partners zu berücksichtigen. Eine solche Berück­sich­tigung des Einkommens und Vermögens des so genannten "faktischen Stiefvaters" war nach der Rechtslage vor dem 1. August 2006 nicht möglich. Da der faktische Stiefvater hier über ein monatliches Einkommen in einer solchen Höhe verfügt, dass der Bedarf seiner eigenen Tochter, seiner neuen Lebenspartnerin und deren Tochter gedeckt ist, besteht kein Anspruch mehr auf steuer­fi­nan­zierte Grund­si­che­rungs­leis­tungen nach dem SGB II auch für die Klägerin.

BSG hat keine verfas­sungs­recht­lichen Bedenken gegen die Neuregelung

Der Senat hält die im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Instanzen geäußerten verfas­sungs­recht­lichen Bedenken gegen § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II für beachtenswert, letztlich aber nicht durchgreifend. Der Gesetzgeber hat die Neuregelung damit gerechtfertigt, diese sei erforderlich zum Schutz der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Bei einer Eheschließung der Mutter der Klägerin mit ihrem neuen Partner wäre zwischen der Klägerin und dem Stiefvater eine Haushalts­ge­mein­schaft im Sinne des § 9 Abs. 5 SGB II entstanden, sodass vermutet würde, dass das nichtleibliche Kind vom Stiefelternteil Leistungen erhält. Dann hätte hier aufgrund des hohen Einkommens des neuen Partners wohl keine Hilfe­be­dürf­tigkeit bei der Klägerin vorgelegen. Mithin hätte die Wahl der Lebensform "eheähnliche Gemeinschaft" gegenüber der Lebensform Ehe den Vorteil, dass "faktische Stiefkinder" weiterhin Grund­si­che­rungs­leis­tungen auf Kosten der Allgemeinheit erhalten könnten. Auch vermag nicht zu überzeugen, dass die Eheschließungs- bzw. Partner­wahl­freiheit (geschützt jedenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG) durch § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in nicht mehr verhält­nis­mäßiger Weise eingeschränkt wird. Es besteht kein schützenswertes Interesse, dass bei der Wahl eines Partners mit (fremden) Kindern die Kosten dieser Kinder auf die Allgemeinheit abgewälzt werden können, wenn innerhalb der Bedarfs­ge­mein­schaft durch den neuen Partner mit bedarfs­de­ckendem Einkommen ausreichende Mittel zur Verfügung stehen.

Anspruch des Kindes auf Existenz­mi­nimums ist gewahrt

Letztlich sieht der Senat auch den Rechtsanspruch des Kindes auf Gewährung des Existenz­mi­nimums gegen den Staat (Art. 1 GG iVm. Art. 20 Abs. 1 GG) als hinreichend gewährt. In der Tat führt § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II dazu, dass das Kind sich Einkommen einer Person "entgegenhalten" lassen muss, gegen die es letztlich keinen Rechtsanspruch auf Unterhalt hat. Allerdings hat das Kind einen Anspruch auf Unterhalt gegen die Mutter, der gemäß § 1603 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch von dieser auch ohne Berück­sich­tigung einer Selbst­be­halts­grenze zu erfüllen ist (so genannte Notgemeinschaft). Die Mutter der Klägerin ist mit ihrem neuen Partner eine eheähnliche Gemeinschaft eingegangen, in der sie sich wechselseitig verpflichtet haben, füreinander einzustehen. Die Mutter der Klägerin muss das von ihrem Partner Zugewandte daher zunächst und zuvörderst ihrem Kind zuwenden. Gibt die Mutter nichts an das Kind weiter, so liegt eine Sorge­rechts­ver­letzung vor, die - wie in jedem anderen Falle auch - zu einem Eingreifen der Mechanismen des SGB VIII führen würde. Der Gesetzgeber handelte daher noch im Rahmen des ihm im Fürsorgerecht zustehenden weiten Gestal­tungs­spielraums, wenn er typisierend unterstellt, dass in einer Patchwork-Familie mit insgesamt ausreichendem (bedarfs­de­ckenden) Einkommen der Bedarf auch des Stiefkindes gedeckt ist. Das SGB II hat sich insgesamt vom zivil­recht­lichen Unterhaltsrecht gelöst, mit dem Ziel, das SGB II als letztes soziales Auffangnetz zu etablieren. Hiermit wäre es nicht vereinbar, wenn Bedarfs­ge­mein­schaften wie die vorliegende - trotz ausreichenden Einkommens - weiterhin Grund­si­che­rungs­leis­tungen nach dem SGB II erhalten würden.

Auszug aus dem Gesetz:

§ 9 Abs. 1 und 2 SGB II

(1) Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfs­ge­mein­schaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht

1. durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit,

2. aus dem zu berück­sich­ti­genden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozia­l­leis­tungen erhält.

(2) Bei Personen, die in einer Bedarfs­ge­mein­schaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfs­ge­mein­schaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebens­un­terhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfs­ge­mein­schaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfs­ge­mein­schaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfs­ge­mein­schaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 52/08 des BSG vom 13.11.2008

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