18.10.2024
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Sie sehen einen Teil eines Daches, welches durch einen Sturm stark beschädigt wurde.

Dokument-Nr. 7398

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Urteil15.07.2008BundesgerichtshofVI ZR 212/07
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • MDR 2008, 1209Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2008, Seite: 1209
  • NJW 2009, 681Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2009, Seite: 681
  • r+s 2008, 530Zeitschrift: recht und schaden (r+s), Jahrgang: 2008, Seite: 530
  • VersR 2008, 1407Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht (VersR), Jahrgang: 2008, Seite: 1407
  • zfs 2009, 16Zeitschrift für Schadenrecht (zfs), Jahrgang: 2009, Seite: 16
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Vorinstanzen:
  • Amtsgericht Lutherstadt Wittenberg, Urteil02.02.2007, 8 C 914/06
  • Landgericht Dessau-Roßlau, Urteil13.07.2007, 1 S 49/07
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil15.07.2008

"Schulbezogene" Schnee­ba­ll­schlacht: Volle Haftung der Unfall­ver­si­cherungBGH bestätigt Rechtsprechung zum Betriebs- und Schulunfall

Bewerfen sich Schüler an einer ca. 100 m von der Schule entfernten Bushaltestelle mit Schneebällen, so kann dieses Verhalten schulbezogen sein, so dass ein Übergang von Forderungen des Geschädigten auf den Unfall­versicherungs­träger ausscheidet. Dies entschied der Bundes­ge­richtshof (BGH).

Der Unfall­ver­si­che­rungs­träger (Kläger) eines bei einer Schneeballschlacht verletzten Schüler verklagte dessen Mitschüler (Beklagter), der den Schneeball geworfen hatte. Die Versicherung hatte zunächst die aus der Verletzung resultierenden Heilbe­hand­lungs­kosten von rund 1.400 € getragen. Diese Kosten verlangte sie von dem Schüler, der den Schneeball geworfen hatte, zurück.

Sachverhalt

Der damals 16 Jahre alte Schüler und sein Mitschüler, der Beklagte, befanden sich an einer Bushaltestelle, die ca. 100 m von ihrer Schule entfernt war. Beide waren soeben aus der Schule gekommen und warteten auf den Bus. Der später verletzte Schüler warf einen Schneeball nach dem Beklagten. Dieser warf daraufhin seinerseits aus einer Entfernung von ca. 6 m einen Schneeball, der seinen Mitschüler am linken Auge traf und dabei verletzte. Die von ihr bezahlten Behand­lungs­kosten verlangte die Unfall­ver­si­cherung des Verletzten von dessen Mitschüler zurück. Das Amtsgericht Wittenberg wies die Klage der Versicherung ab. Dieses Urteil wurde in der Berufung durch das Landgericht Dessau-Roßlau bestätigt. Der BGH regelte den Rechtsstreit abschließend durch Abweisung der Revision.

Haftungs­aus­schluss des Schülers wegen "Betriebs-" bzw. "Schul­be­zo­genheit"

Nach den Regeln der gesetzlichen Unfall­ver­si­cherung ist der Schädiger von der Haftung befreit, wenn er den Schaden seines Mitschülers durch eine schulbezogene Tätigkeit verursacht hat. Ein auf die Versicherung übergegangener Anspruch kommt nur in Betracht, wenn der Beklagte den Versi­che­rungsfall nicht durch eine "betriebliche Tätigkeit" verursacht hat. Im Bereich Schulunfälle ist für das Merkmal der betrieblichen Tätigkeit danach zu fragen, ob das Handeln des Schädigers schulbezogen war. Die Versicherung begründete ihren Anspruch damit, dass das zur Verletzung führende Handeln des beklagten Schülers schulbezogen gewesen sei. Dem widersprachen die BGH-Richter. Sie begründeten dies damit, dass bei der Verletzung eines Schülers durch einen Mitschüler für die Befreiung von der Haftung darauf abzustellen sei, ob die Verlet­zungs­handlung schulbezogen gewesen sei.

Verletzung beruht auf typischer Gefährdung aus engem schulischen Kontakt

Danach ist maßgeblich, ob die Verletzung auf der typischen Gefährdung aus engem schulischen Kontakt beruht und deshalb einen inneren Bezug der Schule aufweist oder ob sie nur bei Gelegenheit des Schulbesuchs erfolgt ist. Schulbezogen im Sinne dieser Rechtsprechung sind insbesondere Verlet­zungs­hand­lungen, die aus Spielereien, Neckereien und Raufereien unter den Schülern hervorgegangen sind, sowie Verletzungen, die in Neugier, Sensationslust und dem Wunsch, den Schulkameraden zu imponieren, ihre Erklärung finden. Dasselbe gilt für Verlet­zungs­hand­lungen, die auf übermütigen und bedenkenlosen Verhal­tens­weisen in einer Phase der allgemeinen Lockerung der Disziplin - insbesondere in den Pausen oder auf Klassenfahrten oder nach Beendigung des Unterrichts oder während der Abwesenheit der Aufsichts­personen - beruhen.

Haftungs­privileg zum Zwecke des Schulfriedens

Da der Haftungsausschluss bei Schulunfällen den Schulfrieden und das ungestörte Zusammenleben von Lehrern und Schülern in der Schule gewährleisten soll, darf das Haftungs­privileg nicht eng ausgelegt werden. Die innere schulische Verbundenheit von Schädiger und Verletztem, die in dem Unfall zum Ausdruck kommen muss, erfordert allerdings stets, dass die konkrete Verlet­zungs­handlung durch die Besonderheiten des Schulbetriebs geprägt wird, was in der Regel eine engere räumliche und zeitliche Nähe zu dem organisierten Betrieb der Schule voraussetzt.

Nicht Ort, sondern Zusammenhang mit betrieblicher Tätigkeit ist entscheidend

Es kommt auch für die Frage, ob sich auf dem Weg von und zur Arbeit ein betrie­bs­be­zogenes Risiko verwirklicht hat, nicht unbedingt darauf an, ob der Unfall auf dem Betriebsgelände oder außerhalb stattgefunden hat. Auch nach neuem Recht ist ein Weg dann als Teil des inner­be­trieb­lichen Organisations- und Funkti­o­ns­be­reichs und mithin als Betriebsweg anzusehen, wenn eine Fahrt maßgeblich durch die betriebliche Organisation geprägt ist, insbesondere indem sie durch die Organisation als inner­be­trieb­licher bzw. inner­dienst­licher Vorgang gekennzeichnet oder durch Anordnung des Dienstherrn zur inner­be­trieb­lichen bzw. inner­dienst­lichen Aufgabe erklärt worden ist. Maßgebend für die Abgrenzung eines Arbeitsunfalls auf einem Betriebsweg von einem Unfall auf einem versicherten Weg ist nicht allein, wo sich der Unfall ereignet hat, sondern auch, inwieweit er mit dem Betrieb und der Tätigkeit des Versicherten zusammenhängt und ob er Ausdruck der betrieblichen Verbindung zwischen ihm und dem Unternehmen ist, deretwegen das Haftungs­privileg nach § 105 Sozial­ge­setzbuch (SGB) VII besteht.

Unfallgefahr ergibt sich aus zwangsläufig gruppen­dy­na­mischen Prozessen in Schule

Deshalb kann ein Unfall auch dann schulbezogen sein, wenn er sich außerhalb des Schulgeländes ereignet. Der Begriff der Schul­be­zo­genheit beruht zudem auf einer gedanklichen Umformung der Maßstäbe, die für die Auslegung des Begriffs der betrieblichen Tätigkeit im Arbeitsleben gelten. Bei letzterer ergeben sich die Gefahren aus der dem Betrieb dienenden Tätigkeit verschiedener Arbeitnehmer. Für Schüler ergeben sich Unfallgefahren nicht vornehmlich aus ihrer Tätigkeit, sondern insbesondere auch aufgrund der gruppen­dy­na­mischen Prozesse, die der Unterricht und das erzwungene Zusammensein im schulischen Bereich verursachen. Spielerisches oder auch aggressives Verhalten ist hier vielfach typisch und tritt insbesondere vor Unter­richts­beginn, in den Pausen und beim Verlassen der Schule auf, ohne dass es nach Unterrichtsende abrupt am Schultor endet oder seinen Bezug zum schulischen Geschehen verliert. Sofern sich spielerisches oder aggressives Verhalten nach Verlassen des Schulgeländes in diesem Sinn einer Lockerung der im Schulbetrieb erforderlichen Disziplin noch auf die innere schulische Verbundenheit von Schädiger und Verletztem zurückführen lässt, liegt eine Prägung durch die Besonderheiten des Schulbetriebs, also eine Schul­be­zo­genheit vor, die den Haftungs­aus­schluss jedenfalls dann rechtfertigt, wenn eine engere räumliche und zeitliche Nähe zu dem organisierten Betrieb der Schule besteht.

Fazit: Stärkung der Rechtsprechung zur Schul­be­zo­genheit von Unfällen

Deshalb hatte der BGH schon zuvor mehrfach ausgesprochen, dass auch Unfälle außerhalb des Schulgeländes schulbezogen sein können, wenn sie auf die Vor- oder Nachwirkungen des Schulbetriebs zurückzuführen sind. Dass bei einem Unfall der vorliegenden Art eine Haftungs­frei­stellung des Schädigers möglicherweise zu verneinen ist, wenn es sich nicht um Schüler, sondern um junge Auszubildende eines Betriebes handelt, bedeutet keine Ungleich­be­handlung gleich gelagerter Sachverhalte. Denn die Ausbildung in einem Betrieb ist nicht vergleichbar mit dem Schulbetrieb, bei dem eine regelmäßig große Anzahl von Schülern gruppen­dy­na­mischen Prozessen unterliegt. Nach den Grundsätzen dieser Rechtsprechung lag dem dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt ein ausreichender Schulbezug vor. Denn die Beteiligten bewarfen sich nach Unterrichtsende an der nahe gelegenen Bushaltestelle mit Schneebällen. Das reicht unter den gegebenen Umständen für die Annahme der Schul­be­zo­genheit aus. Nicht schulbezogen wäre der Unfall jedoch dann, wenn die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt worden wäre. Davon ist jedoch bei einer Schnee­ba­ll­schlacht unter Schülern nicht auszugehen.

§ 105 SGB VII

Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versi­che­rungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Perso­nen­schadens nur verpflichtet, wenn sie den Versi­che­rungsfall vorsätzlich oder auf einem [...] versicherten Weg herbeigeführt haben. [...]

Quelle: ra-online (we)

der Leitsatz

SGB VII §§ 104, 105, 106

SGB X § 116 Abs. 1

Bewerfen sich Schüler an einer ca. 100 m von der Schule entfernten Bushaltestelle mit Schneebällen, so kann dieses Verhalten schulbezogen sein, so dass ein Übergang von Forderungen des Geschädigten auf den Unfall­ver­si­che­rungs­träger ausscheidet.

SGB VII § 110

§ 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII ordnet an, dass sich das Verschulden lediglich auf den die Haftung begründenden Tatbestand, nicht aber auf die konkreten Schadensfolgen beziehen muss. Vorsätzliches Handeln im Sinne des § 110 Abs. 1 SGB VII setzt Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolges voraus.

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