21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen einen Teil eines Daches, welches durch einen Sturm stark beschädigt wurde.

Dokument-Nr. 24827

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil11.09.2017

Schmerzensgeld auch für Verletzungen bei rechtmäßigen Behör­den­maß­nahmen möglichEntschädigungs­anspruch aus Aufopferung umfasst nicht nur Ausgleich materieller Schäden

Bundes­ge­richtshofs hat entschieden, dass der Anspruch auf Entschädigung für hoheitliche Eingriffe in Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit (sogenannte Aufopferung) auch einen Schmerzens­geld­anspruch umfasst.

Der Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens verlangte Schadensersatz wegen einer Verletzung, die er bei einem Polizeieinsatz erlitten hatte. Am 23. Oktober 2010 wurde aus einem fahrenden Pkw ein Schuss auf ein Döner-Restaurant in einem hessischen Ort abgegeben. Im Zuge der darauf eingeleiteten Fahndungs­maß­nahmen entdeckte eine Polizeistreife auf einem Tankstel­len­gelände das mutmaßliche Tatfahrzeug. Der Kläger befand sich zusammen mit einem Mitarbeiter im Verkaufsraum der Tankstelle. Weil auch die grobe Perso­nen­be­schreibung der Täter auf den Kläger und seinen Begleiter passte, gingen die Polizeibeamten davon aus, dass es sich bei ihnen um die Tatverdächtigen handele. Nachdem eine weitere Strei­fen­wa­gen­be­satzung zur Verstärkung eingetroffen war, liefen die Polizeibeamten in den Tankstel­len­ver­kaufsraum. Da sie vermuteten, dass der Kläger und dessen Mitarbeiter eine Schusswaffe mit sich führten, forderten sie zur Eigensicherung beide auf, die Hände hoch zu nehmen, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Dabei erlitt der Kläger eine Schul­ter­ver­letzung. Es stellte sich alsbald heraus, dass er und sein Mitarbeiter mit der Schussabgabe nichts zu tun hatten. Darauf wurden ihnen die Handfesseln abgenommen. Der Kläger verlangt Ersatz des aufgrund der Verletzung erlittenen Vermö­gens­schadens und ein Schmerzensgeld.

Vorinstanzen bejahen Entschä­di­gungs­an­spruch für erlittenen materiellen Schaden

Die Vorinstanzen nahmen an, dass die Polizeibeamten angesichts der Sachlage, die sich ihnen dargeboten habe, zwar rechtmäßig unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung einer Identi­täts­fest­stellung gemäß § 163 b Abs. 1 StPO* angewendet hätten. Jedoch habe der Kläger einen Entschä­di­gungs­an­spruch aus Aufopferung. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs haben das Land- und das Oberlan­des­gericht allerdings nur einen Ausgleich für den erlittenen materiellen Schaden zuerkannt. Die Schmer­zens­for­derung haben sie für unbegründet gehalten.

Entschä­di­gungs­an­spruch aus Aufopferung umfasst auch Ausgleich immaterieller Schäden

Der Bundes­ge­richtshof hat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung darauf erkannt, dass der Entschä­di­gungs­an­spruch aus Aufopferung auch den Ausgleich immaterieller Schäden, mithin auch ein Schmerzensgeld, umfasst. Der Bundes­ge­richtshof hat in seiner früheren "Grund­ent­scheidung" vom 13. Februar 1956 (Az. III ZR 175/54) ausgeführt, dass sich aus der Gesamt­be­trachtung der Rechtsordnung ergebe, dass Ersatz für immaterielle Schäden grundsätzlich nicht geschuldet werde. Nur in jeweils ausnahmsweise ausdrücklich gesetzlich normierten Fällen gebe es einen Ersatzanspruch auch für Nicht­ver­mö­gens­schäden. Eine entsprechende Bestimmung fehle für den allgemeinen Aufop­fe­rungs­an­spruch, der sich gewohn­heits­rechtlich aus §§ 74**, 75*** der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 entwickelt habe.

Der Bundes­ge­richtshof hat in seinem jetzigen Urteil ausgeführt, dass von einem Willen des Gesetzgebers, die Ersatzpflicht bei Eingriffen in immaterielle Rechtsgüter grundsätzlich auf daraus folgende Vermö­gens­schäden zu beschränken, nicht mehr ausgegangen werden könne. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schaden­s­er­satz­recht­licher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) und der hierdurch bewirkten Ausweitung des Schmer­zens­geldan­spruchs infolge der Änderung des § 253 BGB habe der Gesetzgeber den Grundsatz, auf den der Bundes­ge­richtshof sein Urteil vom 13. Februar 1956 gestützt habe, verlassen. Dies ergebe sich auch aus der Änderung der Vorschriften über die Entschädigung für Straf­ver­fol­gungs­maß­nahmen im Jahr 1971, nach denen für zu Unrecht erlittene Haft eine Entschädigung auch für Nicht­ver­mö­gens­schäden gewährt werde. Zudem habe mittlerweile eine Vielzahl von Bundesländern Bestimmungen eingeführt, nach denen Ersatz auch des immateriellen Schadens bei Verletzung des Körpers oder der Gesundheit infolge präventiv-polizeilicher Maßnahmen geschuldet werde.

* § 163 b Abs. 1 StPO

Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staats­an­walt­schaft und die Beamten des Polizeidienstes die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen; § 163 a Abs. 4 Satz 1 gilt entsprechend. Der Verdächtige darf festgehalten werden, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Unter den Voraussetzungen von Satz 2 sind auch die Durchsuchung der Person des Verdächtigen und der von ihm mitgeführten Sachen sowie die Durchführung erken­nungs­dienst­licher Maßnahmen zulässig.

** § 74 EinlALR

Einzelne Rechte und Vorteile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemein­schaft­lichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen.

*** § 75 EinlALR

Dagegen ist der Staat denjenigen, welche seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil24827

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI