21.11.2024
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Dokument-Nr. 9775

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Urteil10.06.2010Bundesarbeitsgericht2 AZR 541/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • ArbRB 2010, 328Zeitschrift: Arbeits-Rechts-Berater (ArbRB), Jahrgang: 2010, Seite: 328
  • BAGE 134, 349Sammlung: Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAGE), Band: 134, Seite: 349
  • BB 2011, 59Zeitschrift: Betriebs-Berater (BB), Jahrgang: 2011, Seite: 59
  • DB 2010, 2395Zeitschrift: Der Betrieb (DB), Jahrgang: 2010, Seite: 2395
  • MDR 2011, 236Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2011, Seite: 236
  • NJW 2011, 167Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2011, Seite: 167
  • NZA 2010, 1227Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), Jahrgang: 2010, Seite: 1227
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ergänzende Informationen

Bundesarbeitsgericht Urteil10.06.2010

Fall "Emmely": Bundesarbeits­gericht erklärt fristlose Kündigung wegen Einlösen aufgefundener Leergutbons für unwirksamAbmahnung wäre als milderes Mittel gegenüber Kündigung angemessen und ausreichend gewesen

Das Bundesarbeits­gericht hat die fristlose Kündigung einer Kassiererin eines Einzelhandels­geschäfts wegen Verdachts der Einlösung von Leergutbons im Wert von 1,30 Euro zum eigenen Vorteil für unwirksam erklärt.

Im zugrunde liegenden Streitfall wurde der Kassiererin eines Einzel­han­dels­ge­schäfts vorgeworfen, ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst zu haben. Die Klägerin war seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechts­vor­gän­ge­rinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerk­schaft­lichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte das Arbeits­ver­hältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen eines dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.

Sofortige Auflösung eines Arbeits­ver­hält­nisses muss sich als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen

Ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertrags­pflichten kann eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist nicht jede unmittelbar gegen die Vermö­gen­s­in­teressen des Arbeitgebers gerichtete Vertrags­pflicht­ver­letzung ohne Weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus „wichtigem Grund“ erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem Zusammenhang keine „absoluten Kündi­gungs­gründe“. Ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz „unter Berück­sich­tigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“ beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertrags­ver­hältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäfts­an­wei­sungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrau­ens­kapital“ ebenso wie die wirtschaft­lichen Folgen des Vertrags­ver­stoßes; eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeits­ver­hält­nisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wieder­her­stellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.

Eine über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung darf nicht unberück­sichtigt bleiben

In Anwendung dieser Grundsätze hat das Bundes­a­r­beits­gericht - anders als die Vorinstanzen (ArbG Berlin, Urteil v. 21.08.2008 - 2 Ca 3632/08 - und LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 24.02.2009 - 7 Sa 2017/08 -) - der Klage der Kassiererin stattgegeben und die Kündigung letztlich für unwirksam erklärt. Die mit einer so genannten „Verdachts­kün­digung“ verbundenen Fragen stellten sich dabei in der Revisi­ons­instanz nicht, weil das Landes­a­r­beits­gericht - für den Senat bindend - festgestellt hat, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen hat. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend. Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrau­ens­ver­hältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzel­han­dels­un­ter­nehmen ist die Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozess­ver­halten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lässt keine Rückschlüsse auf eine vertrags­re­levante Unzuver­läs­sigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und wider­sprüch­lichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zu Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb. Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündi­gungs­sach­verhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeits­ver­hält­nisses zu bewirken.

Quelle: ra-online, Bundesarbeitsgericht

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