Dokument-Nr. 9775
Permalink https://urteile.news/
- ArbRB 2010, 328Zeitschrift: Arbeits-Rechts-Berater (ArbRB), Jahrgang: 2010, Seite: 328
- BAGE 134, 349Sammlung: Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAGE), Band: 134, Seite: 349
- BB 2011, 59Zeitschrift: Betriebs-Berater (BB), Jahrgang: 2011, Seite: 59
- DB 2010, 2395Zeitschrift: Der Betrieb (DB), Jahrgang: 2010, Seite: 2395
- MDR 2011, 236Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 2011, Seite: 236
- NJW 2011, 167Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2011, Seite: 167
- NZA 2010, 1227Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), Jahrgang: 2010, Seite: 1227
- Kassiererin kann wegen des Verdachts der Manipulation gekündigt werden (Fall "Emmely")Arbeitsgericht Berlin, Urteil21.08.2008, 2 Ca 3632/08
- Landesarbeitsgericht bestätigt Kündigung einer Kassiererin wegen Verwendung von Leergutbons in Höhe von 1,30 € (Fall "Emmely")Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil24.02.2009, 7 Sa 2017/08
Bundesarbeitsgericht Urteil10.06.2010
Fall "Emmely": Bundesarbeitsgericht erklärt fristlose Kündigung wegen Einlösen aufgefundener Leergutbons für unwirksamAbmahnung wäre als milderes Mittel gegenüber Kündigung angemessen und ausreichend gewesen
Das Bundesarbeitsgericht hat die fristlose Kündigung einer Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts wegen Verdachts der Einlösung von Leergutbons im Wert von 1,30 Euro zum eigenen Vorteil für unwirksam erklärt.
Im zugrunde liegenden Streitfall wurde der Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts vorgeworfen, ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst zu haben. Die Klägerin war seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen eines dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.
Sofortige Auflösung eines Arbeitsverhältnisses muss sich als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen
Ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten kann eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist nicht jede unmittelbar gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne Weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus „wichtigem Grund“ erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem Zusammenhang keine „absoluten Kündigungsgründe“. Ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“ beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes; eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.
Eine über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung darf nicht unberücksichtigt bleiben
In Anwendung dieser Grundsätze hat das Bundesarbeitsgericht - anders als die Vorinstanzen (ArbG Berlin, Urteil v. 21.08.2008 - 2 Ca 3632/08 - und LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 24.02.2009 - 7 Sa 2017/08 -) - der Klage der Kassiererin stattgegeben und die Kündigung letztlich für unwirksam erklärt. Die mit einer so genannten „Verdachtskündigung“ verbundenen Fragen stellten sich dabei in der Revisionsinstanz nicht, weil das Landesarbeitsgericht - für den Senat bindend - festgestellt hat, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen hat. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend. Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen ist die Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozessverhalten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lässt keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zu Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb. Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 10.06.2010
Quelle: ra-online, Bundesarbeitsgericht
Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.
Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil9775
Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.