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Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Urteil01.04.2022

Corona-Sondervermögen in Rheinland-Pfalz zum Teil verfas­sungs­widrigVerstoß gegen Schuldenbremse

Der Verfas­sungs­ge­richtshof Rheinland-Pfalz in Koblenz hat mit aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. März 2022 ergangenem Urteil vom 1. April 2022 in einem abstrakten Normen­kon­troll­ver­fahren bestimmte Teilbereiche des rheinland-pfälzischen Corona-Sondervermögens für unvereinbar mit der Landes­ver­fassung und daher nichtig erklärt.

Einzelnen Maßnahmen, die aus dem Sondervermögen finanziert werden sollen, fehle es an einem hinreichenden Veran­las­sungs­zu­sam­menhang zu der Corona-Pandemie. Hierin liege ein Verstoß gegen die Schuldenregel der Landes­ver­fassung (sog. Schuldenbremse). Der über­wiegende Teil des Corona-Sondervermögens sei hingegen mit der Landes­ver­fassung vereinbar.

Hintergrund: Normen­kon­trol­lantrag der AfD-Landtags­fraktion

In Rheinland-Pfalz wurde – wie auch in den meisten anderen Ländern und auf Bundesebene – nach Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 durch Gesetz ein Sondervermögen „Zur nachhaltigen Bewältigung der Corona-Pandemie“ geschaffen. Aus dem Sondervermögen sollten verschiedene Maßnahmen unter anderem in den Bereichen Breitbandausbau, Gesund­heits­vorsorge, Wirtschafts­för­derung, Klimaschutz und Schulbetrieb bis längstens zum Ende des Jahres 2023 finanziert werden. Die Ausstattung des Sondervermögens erfolgte durch Zuführung von Mitteln in Höhe von knapp 1,1 Milliarden Euro aus dem Landeshaushalt sowie aus weiteren Mitteln des Bundes. Zeitgleich mit dem Corona-Sonder­ver­mö­gens­gesetz verabschiedete der Landtag das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2020, das eine Netto­kre­dit­aufnahme von knapp 3,5 Milliarden Euro veranschlagte. Einen Teil der neuen Schulden in Höhe von etwa 1,2 Milliarden Euro nahm der Haushaltsgesetzgeber unter Berufung auf die Bestimmung des Art. 117 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV – auf, die als Ausnahme von der seit dem Jahr 2020 geltenden Schuldenbremse eine Kreditaufnahme bei Natur­ka­ta­s­trophen oder anderen außer­ge­wöhn­lichen Notsituationen zulässt. Nach der Begründung des Haushalts­ge­setz­gebers handele es sich bei der Corona-Pandemie um eine solche außer­ge­wöhnliche Notsituation. Mit ihrer gegen das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2020, das Corona-Sonder­ver­mö­gens­gesetz sowie das Landes­haus­halts­gesetz 2021 erhobenen abstrakten Normenkontrolle machte die antragstellende AfD-Landtags­fraktion einen Verstoß gegen die Schuldenregel der Landes­ver­fassung sowie gegen mehrere haushalts­ver­fas­sungs­rechtliche Grundsätze geltend.

Budgetrecht des Parlaments nicht verletzt

Der Verfas­sungs­ge­richtshof erklärte Teile des Zweiten Nachtrags­haus­halts­ge­setzes 2020 sowie des Corona-Sonder­ver­mö­gens­ge­setzes für unvereinbar mit der Landes­ver­fassung. Die Verwendung einiger Mittel des Sondervermögens – konkret in den Bereichen Breitbandausbau und Unter­neh­mens­för­derung im Umweltbereich mit einem Gesamtvolumen von ca. 172 Mio. Euro – sei mit der Schuldenregel der Landes­ver­fassung unvereinbar. Das Corona-Sondervermögen verletze demgegenüber nicht das Budgetrecht des Parlaments.

Ausnah­me­re­gelung der Landes­ver­fassung setzt Verur­sa­chungs­zu­sam­menhang zu Notlage voraus

Nach der Schuldenregel des Art. 117 Abs. 1 Satz 1 LV sei dem Land die Aufnahme neuer Kredite grundsätzlich versagt. Eine Ausnahme hiervon lasse die Landes­ver­fassung allerdings zu, soweit die Schul­den­aufnahme zum Ausgleich eines erheblichen vorübergehenden Finanzbedarfs infolge von Natur­ka­ta­s­trophen oder anderen außer­­ge­wöhn­lichen Notsituationen notwendig sei. Verfas­sungs­rechtlich erlaubt sei vor diesem Hintergrund aber nicht jede Kreditaufnahme, die bloß zeitlich mit der Ausnah­me­si­tuation zusammenfalle. Es komme vielmehr maßgeblich darauf an, dass zwischen der Natur­ka­ta­s­trophe oder anderen außer­ge­wöhn­lichen Notsituation und der Kreditaufnahme ein Veran­las­sungs­zu­sam­menhang bestehe. Neue Schulden dürften nur für solche Maßnahmen aufgenommen werden, die gezielt und zweckgerichtet auf die Überwindung der Notlage gerichtet seien. Sei eine Ausgabe demgegenüber bereits vor der Notsituation eingeplant oder vorgesehen gewesen oder sollten gleichsam bei Gelegenheit der Aussetzung der Schuldenregel Mittel für allge­mein­po­li­tische Maßnahmen bereitgestellt werden, sei der Tatbestand einer notsi­tua­ti­o­ns­be­dingten Kreditaufnahme nicht erfüllt. Liege eine Natur­ka­ta­s­trophe oder andere außer­ge­wöhnliche Notsituation vor, verlange die Verfassung vom Haushalts­ge­setzgeber allerdings nicht, vor einer Kreditaufnahme alle innerhalb des Haushalts denkbaren Möglichkeiten zur Konsolidierung vollständig auszuschöpfen. Die Ausnah­me­re­gelung des Art. 117 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a LV diene vielmehr dazu, die Handlungs­fä­higkeit des Staates in Krisen ungeschmälert zu gewährleisten. Auch müssten nicht vorrangig sämtliche im Haushalt vorhandenen Rücklagen aufgebraucht werden.

Sondervermögen entspricht den Anforderungen nur teilweise

Unter Berück­sich­tigung dieser Maßgaben sei das Corona-Sondervermögen nur insoweit zu beanstanden, als Landesmittel für den Ausbau der digitalen Infrastrukturen sowie zur konjunkturellen Belebung und Minderung der pande­mie­be­dingten Belastungen der Unternehmen im Erneuerbare-Energien- und Umweltbereich vorgesehen seien. Zwar liege es auf der Hand, dass sich durch die Corona-Pandemie dringende Bedarfe zum Ausbau der digitalen Infrastruktur ergäben. Allerdings habe der Haushalts­ge­setzgeber bereits im Jahr 2018 mit hohen Mittelbedarfen zum Ausbau der digitalen Infrastruktur in den kommenden Jahren gerechnet und diese – vor Beginn der Corona-Pandemie – im Doppelhaushalt 2019/2020 auch veranschlagt. Was die Landesmittel für die Unter­neh­mens­för­derung speziell im Umweltbereich anbelange, sei ein zeitlich-inhaltlicher Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nicht erkennbar. Die übrigen Maßnahmen aus den Bereichen Medizin, Bildung, Wirtschaft und Kommu­na­l­fi­nanzen wiesen demgegenüber den nach der Ausnah­me­re­gelung zur Schuldenbremse erforderlichen hinreichenden Veran­las­sungs­zu­sam­menhang zu der Corona-Pandemie auf.

Vor der Kreditaufnahme habe der rheinland-pfälzische Haushalts­ge­setzgeber insbesondere auch nicht die vorhandene Haushalts­si­che­rungs­rü­cklage in Höhe von ca. 1 Mrd. Euro auflösen müssen. Es genüge insoweit, dass sich der Gesetzgeber mit der Möglichkeit einer Auflösung befasst und tragfähige Gründe – hier erhebliche Risiken für den Haushalts­vollzug der nächsten Jahre, u.a. Bedarfe für zukünftig notwendige Zahlungen im Kommunalen Finanzausgleich – für deren Beibehaltung dargelegt habe.

Keine strukturelle Bedeutung für Budgetrecht des Landtags

Soweit das Zweite Nachtrags­haus­halts­gesetz 2020 und das Corona-Sonder­ver­mö­gens­gesetz mit der Schuldenregel des Art. 117 der Landes­ver­fassung vereinbar seien, stehe dem Corona-Sondervermögen auch sonstiges Haushalts­ver­fas­sungsrecht, insbesondere das Budgetrecht des Parlaments, nicht entgegen. Zwar werde mit dem Corona-Sonder­ver­mö­gens­gesetz ein Einnahmen- und Ausga­ben­kreislauf außerhalb des Haushaltsplans eingerichtet, der die Grundsätze der Haushalts­voll­stän­digkeit und Haushalt­s­einheit berühre. Das Corona-Sondervermögen sei allerdings mit Blick auf sein Volumen und den begrenzten Geltungs­zeitraum nicht von struktureller Bedeutung für das Budgetrecht des Landtags.

Quelle: Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, ra-online (pm/cc)

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