21.11.2024
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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil12.06.2013

62-jährige türkische Analphabetin nicht zur Teilnahme an Integra­ti­o­nskurs verpflichtetLandratsamt hat sich zu Unrecht gesetzlich zu ihrem Erlass verpflichtet gesehen

Die Auslän­der­behörde des Landratsamts Karlsruhe darf eine 1951 geborene und seit vielen Jahren in Deutschland lebende türkische Staats­an­ge­hörige, die Analphabetin ist, nicht verpflichten, an einem Integra­ti­o­nskurs mit Alpha­be­ti­sierung teilzunehmen. Dies hat der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg (VGH) entschieden.

Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die 62-jährige Klägerin ist türkische Staats­an­ge­hörige und Analphabetin. Sie lebt seit 1981 rechtmäßig bei ihrem türkischen Ehemann in Deutschland. Der Ehemann war zunächst Arbeitnehmer und betreibt seit 1992 einen Lebens­mit­telladen. Alle sechs Kinder des Ehepaares erwarben einen Schulabschluss und sind mittlerweile deutsche Staats­an­ge­hörige. Ein Sohn studiert Wirtschafts­in­formatik, vier Töchter absolvierten eine Berufsausbildung, eine weitere Tochter ist als Mutter dreier Kinder Hausfrau. Die Ausländerbehörde des Landratsamts Karlsruhe verpflichtete die Klägerin im Januar 2011, an einem Integrationskurs mit Alpha­be­ti­sierung teilzunehmen. Ihre Sprachschwäche hindere sie nachhaltig daran, sich in Gesellschaft und Erwerbsleben zu integrieren. Die Klägerin wandte dagegen ein, sie sei als Analphabetin sowie infolge ihres Gesund­heits­zu­stands und Alters nicht in der Lage, an dem Kurs teilzunehmen. Das Verwal­tungs­gericht bestätigte die Rechtmäßigkeit der Verfügung. Der VGH ist dem nicht gefolgt.

Gesetz zwingt nicht zur Aufforderung zur Teilnahme am Integra­ti­o­nskurs

Die Verfügung sei schon deshalb rechtswidrig, weil das Landratsamt sich zu Unrecht gesetzlich zu ihrem Erlass verpflichtet gesehen habe. Nach dem Aufenthaltsgesetz sei ein Ausländer zur Teilnahme an einem Integra­ti­o­nskurs verpflichtet, wenn er in besonderer Weise integrationsbedürftig sei und die Auslän­der­behörde ihn zur Teilnahme am Kurs auffordere. Das Gesetz zwinge die Auslän­der­behörde aber nicht zu einer solchen Aufforderung, sondern eröffne ihr ein Ermessen. Das habe das Landratsamt verkannt.

Lebensführung der Klägerin entspricht deutschen gesell­schaft­lichen Vorstellungen

Die Klägerin sei aber auch nicht in besonderer Weise integra­ti­o­ns­be­dürftig. Dies sei aufgrund einer Überg­angs­re­gelung für Ausländer, die sich - wie die Klägerin - schon vor dem 1. Januar 2005 legal in Deutschland aufgehalten haben, nur der Fall, wenn die Lebensführung des Ausländers dem öffentlichen Interesse an der Integration in die deutschen Lebens­ver­hältnisse widerspreche. Das komme etwa beim Erhalt sozialer Trans­fer­leis­tungen in Betracht oder wenn mangels Sprach­kennt­nissen keine Kontakte zum sozialen Umfeld in Arbeit, Schule oder Kindergarten bestünden. Das treffe hier aber nicht zu. Die Integration der Kinder sei besonders erfolgreich abgeschlossen. Die qualifizierte Berufs­aus­bildung ihrer vier Töchter belege eine Lebensführung der Klägerin, die den deutschen gesell­schaft­lichen Vorstellungen entspreche. Die Entwicklung der Kinder beruhe auch auf dem integrativen Erzie­hungs­beitrag der Mutter. Die Klägerin und ihr Ehemann hätten ihren Lebensunterhalt stets selbst gesichert und würden dies voraussichtlich auch weiter tun. Sie besäßen ein eigenes Haus und führten eine - in dieser Generation auch unter Deutschen durchaus übliche - Hausfrauenehe. Dass die Klägerin beschlossen habe, mit ihrer Familie nur türkisch zu sprechen und sich vor allem im großen Kreis ihrer Familie und türkisch sprechender Nachbarn und Freunde zu bewegen, sei ihre ureigene Entscheidung, die aufgrund der Besonderheiten dieses Einzelfalles mit den öffentlichen Interessen vereinbar sei.

Klägerin verfügt nicht mehr über Ausdauer, Belastbarkeit und Flexibilität

Die Pflicht zur Teilnahme am Integra­ti­o­nskurs sei aber auch unzumutbar. Die Klägerin sei wegen ihres Alters und ihrer Krank­heits­ge­schichte im regulären Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Der Integra­ti­o­nskurs könne aber auch zum Anliegen des Gesetzes, die Integration von Eltern zu fordern und zu fördern, um deren Kinder zu integrieren, nichts mehr beitragen. Schließlich schränke die Teilnah­me­pflicht die Lebensführung der Klägerin unver­hält­nismäßig ein. Nach den Erfahrungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erforderten Integra­ti­o­nskurse mit Alpha­be­ti­sierung im Regelfall 1.200 Stunden (á 45 Minuten) Sprach­un­terricht und 60 Stunden Unterricht über Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands. Da die Klägerin allenfalls drei Unter­richts­s­tunden am Tag bewältigen könnte, müsste sie den Integra­ti­o­nskurs etwa zwei Jahre lang besuchen. Das sei unver­hält­nismäßig, zumal die Klägerin nicht mehr über Ausdauer, Belastbarkeit und Flexibilität wie ein junger oder "in der Mitte des Lebens stehender“ Mensch verfüge.

Quelle: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg/ra-online

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