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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil05.09.2017

Turban tragender Sikh hat keinen zwingenden Anspruch auf Befreiung von der Helmpflicht beim MotorradfahrenStadt Konstanz muss wegen Ermes­sens­fehlers dennoch über Antrag auf Befreiung von der Helmpflicht neu entscheiden

Die Berufung eines Sikh, dessen Antrag auf Befreiung von der für Motorradfahrer geltenden Schutz­helmpflicht von der Stadt Konstanz abgelehnt worden war, hatte vor dem Verwaltungs­gerichts­hof Baden-Württemberg nur teilweise Erfolg. Der Verwaltungs­gerichts­hof entschied, dass die Stadt wegen der Religi­o­ns­freiheit nicht gezwungen sei, ihm die beantragte Ausnahme von der Helmpflicht zu genehmigen. Allerdings kam der Verwaltungs­gerichts­hof zu dem Ergebnis, dass die Stadt das ihr eingeräumte Ermessen bei der Ablehnung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer Ausnah­me­ge­neh­migung bislang noch nicht fehlerfrei ausgeübt hat, weshalb sie über dessen Antrag nochmals neu entscheiden müsse.

Der Kläger des zugrunde liegenden Falls ist als getaufter Sikh (sogenannter Amritdhari) in der Öffentlichkeit zum Tragen eines Turbans, eines sogenannten Dastar, religiös verpflichtet. Weil er nicht gleichzeitig den Turban und einen Motorradhelm tragen könne, beantragte er im Jahr 2013 bei der Beklagten, ihn nach § 46 Absatz 1 Satz 1 Nummer 5b der Straßen­ver­kehrs­ordnung (StVO) von der in § 21 a Absatz 2 StVO geregelten Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrads zu befreien. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, dass eine Ausnah­me­ge­neh­migung nur erteilt werden könne, wenn das Tragen eines Helms aus gesund­heit­lichen Gründen nicht möglich sei. Dementsprechend hatte die Beklagte in den Jahren 2011 und 2015 einen anderen Motorradfahrer wegen Genickschmerzen von der Helmpflicht befreit.

Kläger kann von Beklagten neue Entscheidung über Befrei­ungs­antrag verlangen

Der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, dass die Ablehnung der beantragten Ausnah­me­ge­neh­migung wegen einer fehlerhaften Ermes­sens­ausübung rechtswidrig gewesen sei, weil die Beklagte nicht deutlich gemacht habe, dass eine Befreiung von der Schutz­helmpflicht nicht nur bei einer Unmöglichkeit des Schutz­helm­tragens aus gesund­heit­lichen, sondern auch aus religiösen Gründen in Betracht komme. Der Kläger könne auch deshalb von der Beklagten eine neue Entscheidung über seinen Befrei­ungs­antrag verlangen, weil diese erst im Juli 2017 ihre bisherige Verwal­tung­s­praxis aufgegeben habe, nach der bei einer Unmöglichkeit des Tragens eines Helms aus gesund­heit­lichen Gründen eine Befreiung ohne weitere Voraussetzungen erteilt worden sei. Wenn sie nun vortrage, zukünftig bei Befrei­ungs­an­trägen "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich zu hinterfragen", bliebe unklar, was genau sie künftig prüfen wolle. Jedenfalls habe sie im Fall des Klägers eine solche Prüfung bislang auch noch nicht vorgenommen.

VGH verneint zwingenden Anspruch des Klägers auf Befreiung von der Helmpflicht

Dagegen hatte die Berufung des Klägers keinen Erfolg, soweit er geltend gemacht hat, dass die Beklagte zwingend verpflichtet sei, ihm die beantragte Ausnah­me­ge­neh­migung zu erteilen. Einen solchen strikten Anspruch hat der Verwal­tungs­ge­richtshof verneint, da die Erteilung der Befreiung im Ermessen der Beklagten stehe und ihr deshalb eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Entschei­dungs­freiheit zustehe. Dieses Ermessen sei im Fall des Klägers auch nicht "auf Null reduziert". Vielmehr sei es rechtlich nicht ausgeschlossen, dass die Behörde den Befrei­ungs­antrag des Klägers ablehne. Allerdings müsse sie - anders als bisher - dabei beachten, dass die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesund­heit­lichen Gründen nicht großzügiger behandelt werden dürfe als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen.

Eingriff in Religi­o­ns­freiheit durch Vorrang des Schutzes physischer und psychischer Integrität Dritter gerechtfertigt

Die vom Kläger für einen zwingenden Befrei­ungs­an­spruch vorgetragenen Argumente haben den Verwal­tungs­ge­richtshof nicht überzeugt. So sei es entgegen der Ansicht des Klägers verfas­sungs­rechtlich unbedenklich, dass die Schutz­helmpflicht auch im Anwen­dungs­bereich der Glaubensfreiheit eines Motorradfahrers nicht in einem Parla­ments­gesetz, sondern in einer Rechts­ver­ordnung (StVO) geregelt sei. Eine Ermes­sens­re­du­zierung folge auch nicht aus der Glaubens­freiheit des Klägers (Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes). Zwar greife die Schutz­helmpflicht in seine Glaubens­freiheit ein, indem er als Sikh wegen der Helmpflicht nicht Motorrad fahren dürfe. Der in der Schutz­helmpflicht liegende Eingriff könne allerdings durch den von der Schutz­helmpflicht (auch) bezweckten und zudem in Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes verfas­sungs­rechtlich verbürgten Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter gerechtfertigt werden, sodass die Glaubens­freiheit des Klägers nicht automatisch eine Verengung des behördlichen Entschei­dungs­er­messens im Sinne einer zwingend zu genehmigenden Ausnahme zur Folge habe. Ein durch einen Helm geschützter Motorradfahrer werde im Fall eines Unfalls regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer in der Lage sein, etwas zur Abwehr der mit einem Unfall einhergehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Personen beizutragen, indem er etwa die Fahrbahn räume, auf die Unfallstelle aufmerksam mache, Ersthilfe leiste oder Rettungskräfte herbeirufe. Die Schutz­helmpflicht fördere aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schütze auch deren psychische Unversehrtheit, wenn man bedenke, dass Unfall­be­teiligte durch schwere Personenschäden anderer Unfall­be­tei­ligter nicht selten selbst psychische Schäden davontrügen. Von diesem Risiko sei angesichts von Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm auszugehen, bei denen bekanntermaßen häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfver­let­zungen die Folge seien.

Befrei­ungs­an­spruch aufgrund des Gleich­be­hand­lungs­gebots nicht gegeben

Auch ergebe sich eine Reduzierung des behördlichen Ermessens nicht aus dem Gleich­be­hand­lungsgebot des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Da eine Unmöglichkeit des Schutz­helm­tragens aus gesund­heit­lichen Gründen jedenfalls nicht schwerer wiegen könne als eine Unmöglichkeit des Schutz­helm­tragens aus religiösen Gründen, spreche zwar einiges dafür, dass der Kläger gegenüber der Beklagten angesichts ihrer bisherigen Befrei­ung­s­praxis einen Anspruch auf Gleich­be­handlung gehabt habe. Die Beklagte habe aber während des laufenden Berufungs­ver­fahrens ihre frühere Verwal­tung­s­praxis willkürfrei aufgegeben und wolle nunmehr vor einer Befreiung "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen"; damit scheide ein Anspruch auf Gleich­be­handlung nunmehr aus. Auch der Umstand, dass in Einzelfällen andere Straßen­ver­kehrs­be­hörden in der Vergangenheit Sikhs aus religiösen Gründen von der Schutz­helmpflicht befreit hätten, vermittele dem Kläger keinen Befrei­ungs­an­spruch gegen die Beklagte. Denn diese sei durch solche andernorts getroffenen Einzel­fa­l­l­ent­schei­dungen nicht gebunden. Das Gleich­heitsgebot verlange nur, dass die Beklagte in ihrem örtlichen Zustän­dig­keits­bereich gleichmäßig entscheide.

Quelle: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg/ra-online

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